Die Mondphasen und
ihr Einfluss bei der Gezeitenvorhersage

Mondbahn

Im Abschnitt über die Gezeitentheorie haben erkannt, dass die Gezeiten hauptsächlich von der Flieh­kraft der Erdrotation und der Gravitationskraft des Mondes angetrieben werden. Die vorige Seite stellte die Grund­lagen des semiempirischen Harmonischen Verfahrens für die Berechnung der Gezeitentabellen dar. Für die praktische Arbeit des Navigators auf der Basis der Gezeitentabellen beschränken wir uns auf dieses Modell, da es einfach ist und Ergebnisse mit ausreichender Genauigkeit liefert: die Fliehkraft ist für die Höhe der Gezeit, die Mondanziehung für die zeitliche Veränderung verantwortlich. Aber: das Modell ist nicht mit den physikalischen Gründen der Gezeiten zu verwechseln!

Bei der Betrachtung der zeitlichen Veränderung der Gezeiten müssen wir zwei Beobachtungen berüchsichtigen:

  1. den Eintritt der beiden Hochwasser pro Tag zu täglich verschobenen Uhrzeiten, und
  2. die periodische Änderung der relativen Hoch- und Niedrigwasserhöhen im 28-Tage-Rhytmus.

Die Erdrotation erzeugt durch Fliehkraft eine Ansammlung der Wassermassen am Äquator, die durch die Mondanziehung zusammengefasst wird. Dadurch entsteht ein Ellipsoid, das ein Maximum in Richtung auf den Mond und ein zweites in der mondabgewandten Richtung hat. Es laufen also zwei Wellenberge um die Erde, die zwei Mal am Tag ein Maximum (Hochwasser) und zwei Mal ein Minimum (Nied­rig­was­ser) verursachen. Es treten zwei Hoch- und zwei Niedrigwasser auf.

Nun ist der Mondtag mit 25,86h etwas länger ist als der Sonnentag mit 24h. Somit verschiebt sich das Eintreten von Hoch- und Niedrigwasser nach der irdischen Sonnenzeit (und den abgeleiteten Stan­dard­zeiten wie GMT, UTC, etc.) täglich ein wenig. Im Mittel beträgt der Zeitunterschied zwischen zwei Hoch­was­sern 12h 25m, sodaß sich die Hochwasserzeit täglich um knapp 1/2 Stunde gegenüber dem Vor­tag verschiebt. Die Hoch- und Niedrigwasser treten an jedem Tag um knapp ½ Stunde später auf als am Vor­tag.

Dabei folgt der Wellenscheitel der Mondstellung wegen der Trägheit der Wassermassen und der Rei­bung an den Küsten und am (flachen) Meeresboden an der Nordseeküste mit einer Verspätung von 2h (30° nach Meridiandurchgang des Mondes).

Skizze Da die Erdachse gegen die der Ekliptik (das ist die Achse, die senkrecht auf der Bahn­ebene der Erde um die Sonne steht) um etwa 23,5° geneigt ist, und die Mond­bahn­ebene eine Neigung zur Ekliptik von etwa 6° hat, ist die Neigung der Mondbahn relativ zur Äqua­tor­ebene 29,5°. Dadurch wird das vom Mond erzeugte Maximum des Wellenbergs während eines Umlaufs des Mondes um sie Erde in verschiedene (geografische) Breiten gezogen.

Dieses "Taumeln" des Wellenberges um die (Erd-)Äquatorebene ist gekoppelt an die relative Stellung des Mondes zur Verbindungslinie Erde-Sonne. Diese Stellung verursacht auch die Mondphasen (Voll­mond, Neumond, zu- und abnehmender Mond), sodass die relativen Höhen der Hochwasser (und natürlich auch der Niedrigwasser) bei Vollmond und bei Neumond am höchsten ausfallen, und im 1. und 3. Viertel des Mondes an niedrigsten.

Die Neumondhöhe des Hochwassers ist ein bißchen höher als die Vollmondhöhe, denn zu Neumond steht der Mond genau zwischen Erde und Sonne: die Anziehungskräfte addieren sich (allerdings ist die der Sonne relativ gering, sodass der Unterschied nicht sehr groß ausfällt).

Schema Die starken Gezeiten bei Voll- und Neumond nennt man Springtiden, die besonders schwachen bei Viertel- und Dreiviertelmond Nipptide. Dazwischen (Mittzeit) liegen die Mitt­tiden.

An der deutschen Küste beginnen Spring- und Nipptidenverhältnisse zwei Tage vor der Mondphase und dauern vier Tage. Die Zeit zwischen Spring- und Nipptiden heißen Mitt­zeit; sie dauern drei Tage.

Am besten sieht man die beschriebenen Effekte in einer Animation. Ich habe daher einen Mondumlauf (und damit einen Wasserbergumlauf) in 15°-Schritten aufgezeichnet und als animierte GIF-Datei hier ein­gebaut. Aus Gründen der beschränkten Dateigröße (Ladezeit!), sind die Bilder recht klein. Es gibt noch einen etwas größeren QuickTime®-Film (QuickTime ist ein Wahrenzeichen der Firma Apple®; QuickTime kann unentgeltlich heruntergeladen werden (Freeware)).

Zum Vorführen, z. B. in der Schule, eignen sich beide nicht. Bei Interesse kann ich einen QuickTime- oder AVI-Film mit einer Bildgröße von 600x480 Pixeln (VGA) auf CD-ROM verkaufen.

In der Animation sind eingezeichnet: die Erdachse, die senkrecht dazu stehende Äquatorebene, und die schräge Ekliptik. Um die Erde laufen die blaue Wasserhülle (stark überzeichnet!) und der Mond. (Die Erde roriert nicht, sie ist so ausgerichtet, dass in Europa Mittag ist.) Die Sonne steht im Bild rechts in der Ekliptikebene. Während des Mondumlaufs sind seine Phasen gut zu erkennen (man muss sich auf die Erde denken), und die Wellenberge der Wasserhülle.

Mondphase und Gezeit Animation

Der aufmerksame Leser des Theorieabschnitts wird gemerkt haben: wir sind zurück beim Ari­stho­telesschen Modell! Es ist eben die einfachste Möglichkeit, die Beobachtung zu beschreiben. Es ist nicht falsch, nur überholt. Es hilft, sich von der Vorstellung frei zu machen, ein Modell sei die Wirklichkeit; ein Modell beschreibt die Wirklichkeit nur.

Das einfache Modell liefert nur Aussagen über die relativen Wasserstandshöhen in Abhängigkeit von den Mondphasen. Die absoluten Wasserstandsänderungen (Tidenhub) hängen von der Größe der Was­serfläche, der Tiefe des Meeres und der Zerküftung der Küstenlinie ab. (Beobachtet werden die Höhen­änderungen nur an Küsten, da es auf offener See an (Höhen-)Bezugsflächen fehlt. Es ist zu vermuten, daß die Radarvermessung der Erdoberfläche anläßlich einer Space Shuttle Mission hier Werte geliefert hat, die sind mir aber nicht bekannt.)

Während die (kleine) Ostsee einen Tidenhub von ca. 11 cm hat, macht sich die Gezeit in der Nordsee (deutsche Küste) mit 4 m mittlerem Wasserstandsunterschied bemerkbar. Die höchsten Tidenhübe beo­bach­tet man in Buchten, in denen sich die Gezeitenwelle staut. In der Fundy Bay (Nova Scotia) werden mit 14-15 m die größten Unterschiede zwischen Hoch- und Niedrigwasser gemessen, in der Severn Mündung (Bristol), und in der Bucht von St. Malo werden Tidenhübe von über 11 m beobachtet.

Die Vorhersage der Zeiten und Höhen der Gezeiten ist für die Handelsschifffahrt wichtig. Viele Häfen können unterhalb eines Mindestwasserstandes nicht mehr angelaufen werden. Wegen des nicht un­er­heb­lichen Rechenaufwandes (vor den Supercomputern benötigte das BSH 20 h Rechenzeit um für ein Jahr die täglichen Gezeiten für den Hamburger Hafen zu berechnen) werden die Gezeiten nur für eine relativ geringen Anzahl Küstenorte berechnet (Bezugsorte). Für alle anderen Häfen (Anschlussorte) gibt es Korrekturwerte, die der Navigator selbst zur Bestimmung der Hoch- und Niedrigwasserzeiten und -höhen benutzen muß. Zumindest lernt man das in diversen Kursen. Es sei jedoch nicht verschwiegen, daß man Software kaufen kann, mit der sich die Gezeiten für beliebige Orte berechnen lassen. Außerdem gibt es eine Anzahl Web Sites (z.B. beim BSH, bei SHOM und beim Proudman Oceanographic Laboratory, bei denen die "offiziellen" Programme zur Online-Berechnung benutzt werden können.

Als Hobbysegler kommt man nicht umhin, die Prinzipien der Gezeitenberechnung nach BSH (Ge­zei­ten­tabel­len) und nach ATT (Admirality Tide Tables) zu lernen.!


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