Immanuel Kant und die Chemie

Die Naturwissenschaft bei Kant

In dem Vorwort zu seinen Metyphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft definiert Immanuel Kant die "Natur": wenn das Wort Natur bloß in formaler Bedeutung genommen wird, da es das erste in­ne­re Princip alles dessen bedeutet, was zum Daseyn eines Dinge gehört, so kann es so vielerley Naturwissenschaften geben, als es spezifisch verschiedene Dinge giebt, deren jedes sein ei­gen­thühm­liches inneres Prinzip der zu seinem Daseyn geörigen Bestimmung enthalten muß. Sonst wird aber auch Natur in materieller Bedeutung genommen, nicht als eine Beschaffenheit, sondern als der Inbegriff aller Dinge, so fern die Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung seyn können, worunter also das Ganze aller Erscheinungen, d. i. die Sinnenwelt, mit Aus­schlie­ßung aller nicht sinnlichen Objekte, verstanden wird. Die Natur, in dieser Bedeutung des Wortes genommen, hat nun, nach der Hauptverschiedenheit unserer Sinne, zwey Haupttheile, deren der eine die Gegenstände äußerer, der andere den Gegenstand des inneren Sinnes enthält, mithin ist von ihr eine eine zwiefache Naturlehre, die Körperlehre und Seelenlehre möglich, wovon die er­ste die ausgedehnte, die zweyte die denkende Natur in Erwägung zieht.

Und Wissenschaft definiert er: Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien ge­ord­ne­tes Ganzes der Erkenntnis seyn soll, heißt Wissenschaft, und, das jene Prinzipien entweder Grundsätze der empirischen oder der rationalen Verknüpfung der Erkenntnisse in einem Ganzen seyn können, so würde auch die Naturwissenschaft, sie maf nun Körperlehre oder Seelenlehre seyn, in historische oder rationale Naturwissenschaft eingetheilt werden müssen, wenn nur das Wort Natur (weil dieses eine Ableitung des Mannigfaltigen zum Daseyn der Dinge gehörigen aus ihrem inneren Prinzip bezeichnet) eine Erkenntniß durch Vernunft von ihrem Zusammenhange nothwendig machte, wofern sie den Namen Naturwissenschaft verdienen soll. Daher wird die Na­tur­leh­re besser in historische Naturlehre, welche nichts als sytsmatisch geordnete Facta der Na­tur­din­ge enthält (und wiederum aus Naturbeschreibung, als dem Classensystem derselben nach Ähnlichkeiten, und Naturgeschichte, als der systematischen Darstellung derselben in ver­schie­de­nen Zeiten und Örtern, bestehen würde), und Naturwissenschaft eingetheilt werden können. Die Naturwissenschaft würde nun wiederum entweder eigentlich, oder uneigentlich sogenannte Na­tur­wis­sen­schaft seyn, wovon die erstere ihren Gegenstand gänzlich nach Principien a priori, die zweyte nach Erfahrungsgesetzen behandelt.

Eigentliche Wissenschaft kann nur diejeneige genannt werden, deren Gewißheit apodictisch ist; Erkenntniß, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist nur uneigentlich so genanntes Wissen. Dasjenige Ganze der Erkenntniß, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heissen, und, wenn die Verknüpfung der Erkenntniß in diesem System ein Zusammenhang von Gründen und folgen ist, so gar rationale Wissenschaft. Wenn aber diese Gründe oder Principien in ihr, wie z. B. in der Chymie, doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebenen Facta durch die Vernunft erklärt werden, dloß Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtseyn ihrer Nothwendigkeit bey sich (und sind nicht apodictisch-gewiß) und alsdenn verdient das Ganze in stregengerem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chymie sollte daher eher systematische Kunst, als Wissenschaft heissen.

Eine rationale Naturlehre verdient also den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdann, wenn die Naturgesetze, die ihr zum Grunde liegen, a priori erkannt werden, und nicht bloße Er­fah­rungs­ge­setze sind. Man nennt eine Naturerkenntniß von der ersten Art rein; die von der zweyten Art aber wird angewandte Vernunfterkenntniß genannt. da das Wort Natur schon den Begriff von Gesetzen bey sich führt, dieser aber den Begriff der Nothwendigkeit aller Bestimmungen eines Dinges, die zu seinem Daseyn gehören, bey sich führt, so sieht man leicht, warum Na­tur­wis­sen­schaft die Rechtmäßigkeit dieser Benennung nur von einem reinen Theil derselben, der nämlich die Principien a priori aller übrigen Naturerklärungen enthält, ableiten müsse und nur kraft dieses reinen Theils eigentliche Wissenschaft sey, imgleichen daß, nach Forderung der Vernunft, jede Naturlehre zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen müsse, weil die Nothwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen seyn will; daher die vollständigste Erklärung gewisser Erscheinungen aus chymischen Principien noch immer eine Unzufreidenheit zurück läßt, weil man von diesen, als zufälligen Ge­set­zen, die bloß Erfahrung gelehrt hat, keine Gründe a priori anführen kann.

Alle eigentliche Naturwissenschaft bedarf also einen reinen Theil, auf dem sich die apodiktische Gewißheit, die die Vernunft in ihr sucht, gründen könne, und weil dieser, seinen Principien nach, in Vergleichung mit denen, die nur empirisch sind, ganz ungleichartig ist, so ist es zugleich von der größten Zuträglichkeit, ja der Natur der Sache nach, von unerläßlicher Pflicht in Ansehung der Methode, jenen Theil abgesondert und von dem anderen ganz unbemengt, so viel möglich in seiner ganzen Vollständigkeit vorzutragen, damit man genau bestimmen könne, was die Vernunft für sich zu leisten vermag, und wo ihr Vermögen anhebt der Beihülfe der Erfahrungsprincipien nöthig zu haben. Reine Vernunfterkenntniß aus bloßen Begriffen heißt reine Philosophie oder Metaphysik; dagegen wird die, welche nur auf der Construction der Begriffe, vermittelst Darstellung des Gegenstandes in einer Anschauung a priori, ihre Erkenntniß gründet, Mathematik genannt.

Eigentlich so zu nennende Naturwissenschaft setzt zuerst Metaphysik der Natur voraus; denn Gesetze, d. i. Principien der Nothwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört, beschäftigen sich mit einem Begriffe, der sich nicht construiren läßt, weil das Dasein in keiner Anschauung a priori dargestellt werden kann. Daher setzt eigentliche Naturwissenschaft Metaphysik der Natur voraus. Diese muß nun zwar jederzeit lauter Principien, die nicht empirisch sind, enthalten, (denn darum führt sie eben den Namen einer Metaphysik,) aber sie kann doch entweder sogar ohne Beziehung auf irgend ein bestimmtes Erfahrungsobject , mithin unbestimmt in Ansehung der Natur dieses oder jenen Dinges der Sinnenwelt, von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen, handeln, und alsdenn ist es der transscendentale Theil der Metaphysik der Natur; oder sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Princip zur Erkenntniß derselben gebraucht wird, (z. B. sie legt den empirischen Begriff einer Materie, oder eines denkenden Wesens zum Grunde und sucht den Umfang der Erkenntniß, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist,) und da muß eine solche Wissenschaft noch immer eine Metaphysik der Natur, nämlich der körperlichen oder denkenden Natur heißen, aber es ist alsdenn keine allgemeine, sondern besondere metaphysische Naturwissenschaft, (Physik und Psychologie,) in der jene transcendentalen Principien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne angewandt werden.

Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfordert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Theil, der dem empirischen, zum Grunde liegt und der auf Erkenntniß der Naturdinge a priori beruht. Nun heißt etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge kann aber nicht aus bloßen Begriffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens, (daß er sich selbst nicht widerspreche,) aber nicht des Objects, als Naturdinges, erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existirend) gegeben werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch erfordert, daß die dem Begriffe correspondirende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff construirt werde. Nun ist die Vernunfterkenntniß durch Construction der Begriffe mathematisch. Also mag zwar eine reine Philosophie der Natur überhaupt, d. i. diejenige, die nur das, was den Begriff einer Natur im Allgemeinen ausmacht, untersucht, auch ohne Mathematik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich, und da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntniß a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann.

So lange also noch für die chemischen Wirkungen der Materien auf einander kein Begriff ausgefunden wird, der sich construiren läßt, d. i. kein Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Theile angeben läßt, nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u. dgl. ihre Bewegungen sammt ihren Folgen sich im Raume a priori anschaulich machen und darstellen lassen, (eine Forderung, die schwerlich jemals erfüllt werden wird,) so kann Chymie nichts mehr, als systematische Kunst oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft werden, weil die Principien derselben bloß empirisch sind und keine Darstellung a priori in der Anschauung erlauben, folglich die Grundsätze chymischer Erscheinungen ihrer Möglichkeit nach nicht im Mindesten begreiflich machen, weil sie der Anwendung der Mathematik unfähig sind.

Noch weiter aber, als selbst Chemie, muß empirische Seelenlehre jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben, erstlich, weil Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist, man müßte denn allein das Gesetz der Stetigkeit in dem Abflüsse der inneren Veränderungen desselben in Anschlag bringen wollen, welches aber eine Erweiterung der Erkenntniß sein würde, die sich zu der, welche die Mathematik der Körperlehre verschafft, ohngefähr so verhalten würde, wie die Lehre von den Eigenschaften der geraden Linie zur ganzen Geometrie. Denn die reine innere Anschauung, in welcher die Seelenerscheinungen construirt werden sollen, ist die Zeit, die nur eine Dimension hat. Aber auch nicht ein mal als systematische Zergliederungskunst oder Experimentallehre kann sie der Chemie jemals nahe kommen, weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch bloße Gedankentheilung von einander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen, noch weniger aber ein anderes denken des Subject sich unseren Versuchen, der Absicht angemessen, von uns unterwerfen läßt, und selbst die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alterirt und verstellt. Sie kann daher niemals etwas mehr, als eine historische, und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden; welches denn auch die Ursache ist, weswegen wir uns zum Titel dieses Werks, welches eigentlich die Grundsätze der Körperlehre enthält, dem gewöhnlichen Gebrauche gemäß des allgemeinen Namens der Naturwissenschaft bedient haben, weil ihr diese Benennung im eigentlichen Sinne allein zukommt und also hiedurch keine Zweideutigkeit veranlaßt wird.

Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre, die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, so müssen Principien der Construction der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden; mithin wird eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschäft der reinen Philosophie ist, die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten, (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst an trifft, in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Raume und der Zeit (nach Gesetzen, welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen,) bedient, mithin eine wirkliche Metaphysik der körperlichen Natur ist.

Alle Naturphilosophen, welche in ihrem Geschäfte mathematisch verfahren wollten, haben sich daher jederzeit, (obschon sich selbst unbewußt,) metaphysischer Principien bedient und bedienen müssen, wenn sie sich gleich sonst wider allen Anspruch der Metaphysik auf ihre Wissenschaft seierlich verwahrten. Ohne Zweifel verstanden sie unter der letzteren den Wahn, sich Möglichkeiten nach Belieben auszudenken und mit Begriffen zu spielen, die sich in der Anschauung vielleicht gar nicht darstellen lassen und keine andere Beglaubigung ihrer objectiven Realität haben, als daß sie bloß mit sich selbst nicht im Widerspruche stehen. Alle wahre Metaphysik ist aus dem Wesen des Denkungsvermögens selbst genommen, und keinesweges darum erdichtet, weil sie nicht von der Erfahrung entlehnt ist, sondern enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin Begriffe und Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer Vorstellungen allererst in die gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirisches Erkenntnis d. i. Erfahrung werden kann. So konnten also jene mathematischen Physiker metaphysischer Principien gar nicht entbehren, und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich machen, als des Begriffs der Bewegung, der Erfüllung des Raums, der Trägheit u. s. w.. Darüber aber bloß empirische Grundsätze gelten zu lassen, hielten sie mit Recht der apodiktischen Gewißheit, die sie ihren Naturgesetzen geben wollten, gar nicht gemäß, daher sie solche lieber postulirten, ohne nach ihren Quellen a priori zu forschen.

Es ist aber von der größten Wichtigkeit, zum Vortheil der Wissenschaften ungleichartige Principien von einander zu scheiden, jede in ein besonderes System zu bringen, damit sie eine Wissenschaft ihrer eigenen Art ausmachen, um dadurch die Ungewißheit zu verhüten, die aus der Vermengung entspringt, da man nicht wohl unterscheiden kann, welcher von beiden theils die Schranken, theils auch die Verirrungen, die sich im Gebrauche derselben zutragen möchten, beizumessen sein dürsten. Um deswillen habe ich für nöthig gehalten, von dem reinen Theile der Naturwissenschaft (physion generalis ), wo mathematische Constructionen durch einander, zu laufen pflegen, die ersteren, und mit ihnen zugleich die Principien der Construction dieser Begriffe, also der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst, in einem System darzustellen. Diese Absonderung hat, außer dem schon erwähnten Nutzen, den sie schafft, noch einen besonderen Reiz, den die Einheit der Erkenntniß bei sich führt, wenn man verhütet, daß die Grenzen der Wissenschaften nicht in einander laufen, sondern ihre gehörig abgetheilten Felder einnehmen.

Es kann noch zu einem zweiten Anpreisungsgrunde dieses Verfahrens dienen: daß in Allem, was Metaphysik heißt, die absolute Vollständigkeit der Wissenschaften gehofft werden kann, dergleichen man sich in keiner anderen Art von Erkenntnissen versprechen darf, mithin eben so, wie in der Metaphysik der Natur überhaupt, also auch hier die Vollständigkeit der Metaphysik der körperlichen Natur zuversichtlich erwartet werden kann; wovon die Ursache ist, daß in der Metaphysik der Gegenstand nur, wie er bloß nach dem allgemeinen Gesetzen des Denkens, in anderen Wissenschaften aber, wie er nach datis der Anschauung (der reinen sowohl, als empirischen) vorgestellt werden muß, betrachtet wird, da denn jene, weil der Gegenstand in ihr jederzeit mit allen nothwendigen Gesetzen des Denkens verglichen werden muß, eine bestimmte Zahl von Erkenntnissen geben muß, die sich völlig erschöpfen läßt, diese aber, weil sie eine unendliche Mannigfaltigkeit von Anschauungen (reinen oder empirischen), mithin Objecte des Denkens darbieten, niemals zur absoluten Vollständigkeit gelangen, sondern ins Unendliche erweitert werden können; wie reine Mathematik und empirische Naturlehre. Auch glaube ich diese metaphysische Körperlehre so weit, als sie sich immer nur erstreckt, vollständig erschöpft, dadurch aber doch eben kein großes Werk zu Stande gebracht zu haben.

Das Schema aber zur Vollständigkeit eines metaphysischen Systems, es sei der Natur überhaupt oder der körperlichen Natur insbesondere, ist die Tafel der Kategorien*. Denn mehr gibt es nicht reine Verstandesbegriffe, die die Natur der Dinge betreffen können. Unter die vier Klassen derselben, die der Größe, der Qualität, der Relation und endlich der Modalität müssen sich auch alle Bestimmungen des allgemeinen Begriffs einer Materie überhaupt, mithin auch Alles, was a priori von ihr gedacht, was in der mathematischen Construction dargestellt, oder in der Erfahrung, als bestimmter Gegenstand derselben gegeben werden mag, bringen lassen. Mehr ist hier nicht zu thun, zu entdecken oder hinzuzusetzen, sondern allenfalls, wo in der Deutlichkeit oder Gründlichkeit gefehlt sein möchte, es besser zu machen.

  • *) Nicht wider diese Tafel der reinen Verstandsbegriffe, sondern die daraus gezogenen Schlüsse auf die Grenzbestimmung des ganzen reinen Vernunftvermögens, mithin auch aller Metaphysik, finde ich in der Allgem. Litt. Zeit. [1785] Nr. 295, in der Recension der Institutiones Logicae et Metaph. des Herrn Prof. Ulrich Zweifel, in welchen der tiefforschende Recensent mit seinem nicht minder prüfenden Verfasser übereinzukommen sich erklärt, und zwar Zweifel, die, weil sie gerade das Hauptfundament meines in der Kritik aufgestellten Systems treffen sollen, Ursache wären, daß dieses in Ansehung seines Hauptzieles noch lange nicht diejenige apodiktische überzeugung bei sich führe, welche zur Abnöthigung einer uneingeschränkten Annahme erforderlich ist; dieses Hauptfundament sei meine, theils dort, theils in den Prolegomenen vorgetragene Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, die aber in dem Theile der Kritik, welcher gerade der hellste sein müßte, am Meisten dunkel wäre, oder wohl gar sich im Zirkel herumdrehte etc. Ich richte meine Beantwortung dieser Einwürfe nur auf den Hauptpunct derselben, daß nämlich ohne eine ganz klare und genugthuende Deduction der Kategorien das System der Kritik der reinen Vernunft in seinem Fundamente wanke. Dagegen behaupte ich, daß für denjenigen, der meine Sätze von der Sinnlichkeit aller unserer Anschauung und der Zulänglichkeit der Tafel der Kategorien, als von den logischen Functionen in Urtheilen überhaupt entlehnter Bestimmungen unseres Bewußtseins, unterschreibt, (wie dieses denn der Recensent thut,) das System der Kritik apodiktische Gewißheit bei sich führen müsse, weil dieses auf dem Satze erbaut ist: daß der ganze spekulative Gebrauch unserer Vernunft niemals weiter, als auf Gegenstände möglicher Erfahrungsreiche. Denn wenn bewiesen werden kann: daß die Kategorien, deren sich die Vernunft in allem ihrem Erkenntniß bedienen muß, gar keinen anderen Gebrauch, als bloß in Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung haben können, (dadurch daß sie in dieser bloß die Form des Denkens möglich machen,) so ist die Beantwortung der Frage, Wie sie solche möglich machen, zwar wichtig genug, um diese Deduction, wo möglich, zu vollenden, aber in Beziehung auf den Hauptzweck des Systems, nämlich die Grenzbestimmung der reinen Vernunft, keinesweges nothwendig, sondern bloß verdienstlich. Denn in dieser Absicht ist die Deduction schon alsdenn weit genug geführt, wenn sie zeigt, daß gedachte Kategorien nichts Anderes, als bloße Formen der Urtheile sind, so fern sie auf Anschauungen, (die bei uns immer nur sinnlich sind,) angewandt werden, dadurch aber allererst Objecte bekommen und Erkenntnisse werden; weil dieses schon hinreicht, das ganze System der eigentlichen Kritik darauf mit völliger Sicherheit zu gründen. So steht Newton's System der allgemeinen Gravitäten fest, ob es gleich die Schwierigkeit bei sich führt, daß man nicht erklären kann, wie Anziehung in die Ferne möglich sei; aber Schwierigkeiten sind nicht Zweifel. Daß nun jenes Hauptfundament auch ohne vollständige Deduktion der Kategorien fest stehe, beweise ich aus dem Zugestandenen also:
    1. zugestanden: daß die Tafel der Kategorien alle reine Verstandesbegriffe vollständig enthalte und eben so alle formale Verstandeshandlungen in Urtheilen, von welchen sie abgeleitet und auch in nichts unterschieden sind, als daß durch den Verstandesbegriff ein Object in Ansehung einer oder der anderen Function der Urtheile als bestimmt gedacht wird; (z. B. so wird in dem kategorischen Urtheile: der Stein ist hart, der Stein für Subject und hart als Prädicat gebraucht, so doch, daß es dem Verstande unbenommen bleibt, die logische Function dieser Begriffe umzutauschen und zu sagen: einiges Harte ist ein Stein; dagegen, wenn ich es mir im Objecte als bestimmt vorstelle, daß der Stein wieder möglichen Bestimmung eines Gegenstandes, nicht des bloßen Begriffs, nur als Subject, die Härte aber nur als Prädicat gedacht werden müsse, dieselben logischen Functionen nun reine Verstandesbegriffe von Objecten, nämlich als Substanz und Accidens, werden;)
    2. zugestanden: daß der Verstand durch seine Natur synthetische Grundsätze s priori bei sich führe, durch die er alle Gegenstände, die ihm gegeben werden mögen, jenen Kategorien unterwirft, mithin es auch Anschauungen a priori geben müsse, welche die zur Anwendung jener reinen Verstandesbegriffe erforderlichen Bedingungen enthalten, weil ohne Anschauung kein Object, in Ansehung dessen die logische Function als Kategorie bestimmt werden könne, mithin auch keine Erkenntniß irgend eines Gegenstandes, und also auch ohne reine Anschauung kein Grundsatz, der sie a priori dieser Absicht bestimmte, Statt findet;
    3. zugestanden: daß diese reinen Anschauungen niemals etwas Anderes, als bloße Formen der Erscheinungen äußeren oder des inneren Sinnes (Raum und Zeit), folglich nur allein der Gegenstände, möglicher Erfahrungen sein können:

    so folgt: daß aller Gebrauch der reinen Vernunft niemals worauf anders, als auf Gegenstände der Erfahrung gehen könne, und, weil in Grundsätzen a priori nichts Empirisches die Bedingung sein kann, sie nichts weiter, als Principien der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sein können. Dieses allein ist das wahre und hinlängliche Fundament der Grenzbestimmung der reinen Vernunft, aber nicht die Auflösung der Aufgabe: wie nun Erfahrung vermittelst jener Kategorien und nur allein durch dieselben möglich sei. Die letztere Aufgabe, obgleich auch ohne sie das Gebäude fest steht, hat indessen große Wichtigkeit, und, wie ich es jetzt einsehe, eben so große Leichtigkeit, da sie beinahe durch eines einzigen Schluß aus der genau bestimmten Definition eines Urtheils überhaupt (einer Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objects werden,) verrichtet werden kann. Die Dunkelheit, die in diesem Theile der Deduktion meinen vorigen Verhandlungen anhängt, und die ich nicht in Abrede ziehe, ist dem gewöhnlichen Schicksale des Verstandes im Nachforschen beizumessen, dem der kürzeste Weg gemeiniglich nicht der erste ist, den er gewahr wird. Daher ich die nächste Gelegenheit ergreifen werde, diesen Mangel, (welcher auch nur die Art der Darstellung, nicht den dort schon richtig angegebenen Erklärungsgrund betrifft,) zu ergänzen, ohne daß der scharfsinnige Recensent in die ihm gewiß selbst unangenehm fallende Nothwendigkeit versetzt werden darf, wegen der befremdlichen Einstimmung der Erscheinungen zu den Verstandesgesetzen, ob diese gleich von jenen ganz verschiedene Quellen haben, zu einer prästabilirten Harmonie seine Zuflucht zu nehmen; einem Rettungsmittel, welches weit schlimmer wäre, als das Uebel, dawider es helfen soll, und das dagegen doch wirklich nichts helfen kann. Denn auf diese kommt doch jene objective Nothwendigkeit nicht heraus, welche die reinen Verstandesbegriffe (und die Grundsätze ihrer Anwendung auf Erscheinungen) charakterisirt, z. B. in dem Begriffe der Ursache in Verknüpfung mit der Wirkung, sondern Alles bleibt bloß subjektiv-nothwendige, objectiv aber bloß zufällige Zusammenstellung, gerade wie es Hume will, wenn er sie bloße Täuschung aus Gewohnheit nennt. Auch kann kein System in der Welt diese Nothwendigkeit wo anders herleiten, als aus den a priori zum Grunde liegenden Principien der Möglichkeit des Denkens selbst, wodurch allein die Erkenntniß der Objekte, deren Erscheinung uns gegeben ist, d. i. Erfahrung möglich wird, und gesetzt, die Art, wie Erfahrung dadurch allererst möglich werde, könnte niemals hinreichend erklärt werden, so bleibt es doch unwidersprechlich gewiß, daß sie bloß durch jene Begriffe möglich, und jene Begriffe umgekehrt auch in keiner anderen Beziehung, als auf Gegenstände der Erfahrung einer Bedeutung und irgend eines Gebrauchs fähig sind.

Der Begriff der Materie. mußte daher durch alle vier genannte Functionen der Verstandesbegriffe (in vier Hauptstücken) durchgeführt werden, in deren jedem eine neue Bestimmung desselben hinzu kam. Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können diese Sinne afficirt werden. Auf diese führt auch der Verstand alle übrige Prädicate der Materie, die zu ihrer Natur gehören, zurück, und so ist die. Naturwissenschaft durchgängig eine entweder reine oder angewandte Bewegungslehre. Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft sind also unter vier Hauptstücke zu bringen, deren erstes die Bewegung als ein reines Quantum, nach seiner Zusammensetzung, ohne alle Qualität des Beweglichen betrachtet und Phoronomie genannt werden kann, das zweite sie als zur Qualität der Materie gehörig, unter dem Namen einer ursprünglich bewegenden Kraft, in Erwägung zieht und daher Dynamik heißt, das dritte die Materie mit dieser Qualität durch ihre eigene Bewegung gegen einander in Relation betrachtet und unter dem Namen Mechanik vorkommt, das vierte aber ihre Bewegung oder Ruhe bloß in Beziehung auf die Vorstellungsart oder Modalität, mithin als Erscheinung äußerer Sinne bestimmt und Phänomenologie genannt wird.

Aber außer jener inneren Notwendigkeit, die metaphysischen Anfangsgründe der Körperlehre nicht allein von der Physik, welche empirische Principien braucht, sondern selbst von den rationalen Prämissen derselben, die den Gebrauch der Mathematik in ihr betreffen, abzusondern, ist noch ein äußerer, zwar nur zufälliger, aber gleich wohl wichtiger Grund da, ihre ausführliche Bearbeitung von dem allgemeinen System der Metaphysik abzutrennen und sie als ein besonderes Ganze systematisch darzustellen. Denn wenn es erlaubt ist, die Grenzen einer Wissenschaft nicht bloß nach der Beschaffenheit des Objects und der specifischen Erkenntnißart desselben, sondern auch nach dem Zwecke, den man mit der Wissenschaft selbst zum anderweitigen Gebrauche vor Augen hat, zu zeichnen, und findet, daß Metaphysik so viel Köpfe bisher nicht darum beschäftigt hat und sie ferner beschäftigen wird, um Naturkenntnisse dadurch zu erweitern, (welches viel leichter und sicherer durch Beobachtung, Experiment und Anwendung der Mathematik auf äußere Erscheinungen geschieht,) sondern um zur Erkenntniß dessen, was gänzlich über alle Grenzen der Erfahrung hinausliegt, von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu gelangen; so gewinnt man in Beförderung dieser Absicht, wenn man sie von einem, zwar aus ihrer Wurzel sprossenden, aber doch ihrem regelmäßigen Wüchse nur hinderlichen Sprößlinge befreit, diesen besonders pflanzt, ohne dennoch dessen Abstammung aus jener zu verkennen und sein völliges Gewächs aus dem System der allgemeinen Metaphysik wegzulassen. Dieses thut der Vollständigkeit der letzteren keinen Abbruch und erleichtert doch den gleichförmigen Gang dieser Wissenschaft zu ihrem Zwecke, wenn man in allen Fällen, wo man der allgemeinen Körperlehre bedarf, sich nur auf das abgesonderte System derselben berufen darf, ohne jenes größere mit diesem anzuschwellen. Es ist auch in der That sehr merkwürdig, (kann aber hier nicht ausführlich vor Augen gelegt werden,) daß die allgemeine Metaphysik in allen Fällen, wo sie Beispiele (Anschauungen) bedarf, um ihren reinen Verstandesbegriffen Bedeutung zu verschaffen, diese jederzeit aus der allgemeinen Körperlehre, mithin von der Form und den Principien der äußeren Anschauung hernehmen müsse, und, wenn diese nicht vollendet darliegen, unter lauter sinnleeren Begriffen unstät und schwankend herumtappe. Daher die bekannten Streitigkeiten, wenigstens die Dunkelheit in den Fragen: über die Möglichkeit eines Widerstreits der Realitäten, die der intensiven Größe u. a. m., bei welchen der Verstand nur durch Beispiele aus der körperlichen Natur belehrt wird, welches die Bedingungen sind, unter denen jene Begriffe allein objective Realität, d. i. ist Bedeutung und Wahrheit haben können. Und so thut eine abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur der allgemeinen vortreffliche und unentbehrliche Dienste, indem sie Beispiele (Fälle in Concreto) herbeischafft, die Begriffe und Lehrsätze der letzteren (eigentlich der Transscendentalphilosophie) zu realisiren, d. i. einer bloßen Gedankenform Sinn und Bedeutung unterzulegen.

Ich habe in dieser Abhandlung die mathematische Methode, wenngleich nicht mit aller Strenge befolgt, (wozu mehr Zeit erforderlich gewesen wäre, als ich darauf zu verwenden hatte,) dennoch nachgeahmt, nicht um ihr durch ein Gepränge von Gründlichkeit besseren Eingang zu verschaffen, sondern weil ich glaube, daß ein solches System deren wohl fähig sei und diese Vollkommenheit auch mit der Zeit von geschickterer Hand wohl erlangen könne, wenn durch diesen Entwurf veranlaßt, mathematische Naturforscher es nicht unwichtig finden sollten, den metaphysischen Theil, dessen sie ohne dem nicht entübrigt sein können, in ihrer allgemeinen Physik als einen besonderen Grundtheil zu behandeln und mit der mathematischen Bewegungslehre in Vereinigung zu bringen.

Newton sagt in der Vorrede zu seinen mathem. Grundlehren der Naturwissenschaft, (nachdem er angemerkt hatte, daß die Geometrie von den mechanischen Handgriffen, die sie postulirt, nur zweier bedürfe, nämlich eine gerade Linie und einen Zirkel zu beschreiben:) die Geometrie ist stolz darauf, daß sie mit so Wenigem, was sie anderwärts hernimmt, so viel zu leisten vermag: Gloriatur Geometria, quod tam paucis principiis aliunde petitis tam multa praestet. [Newton Princ. Phil. Nat. Math. Praefat.]). Von der Metaphysik könnte man dagegen sagen: sie steht bestürzt, daß sie mit so Vielem, als ihr die reine Mathematik darbietet, doch nur so wenig ausrichten kann. Indessen ist doch dieses Wenige etwas, das selbst die Mathematik in ihrer Anwendung auf Naturwissenschaft umumgänglich braucht, die sich also, da sie hier von der Metaphysik nothwendig borgen muß, auch nicht schämen darf, sich mit ihr in Gemeinschaft sehen zu lassen.


Quellen

  1. Gottfried Wilhelm Leibniz: Leibnitz′ Monadologie. Deutsch von Robert Zimmermann. Wien 1847.
  2. Immanuel Kant: Metyphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Frankfurt und Leipzig 1794.
  3. J. B. Richter: Anfangsgründe der Stöchyometrie. Erster Theil. Welcher die reine Stöchyometrie enthält. Breßlau und Hirschberg, 1792.
  4. Ilse Lengyel: Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein. Berlin 1921.


© 2015 Dr. Rainer Stumpe