Modell der Gezeit nur mit Fliehkraft

Zum Glück kann man für eine qualitative Erklärung der Gezeit ein vereinfachtes Modell anwenden: die gemeinsame Rotation von Erde und Mond um die Achse, die durch den Schwerpunkt des Systems geht.

Skizze

Die Skizze zeigt schematisch das System. Nur die Fliehkräfte wirken. Die Rotationsachse des Gesamt­systems ist rot gefärbt (beachte: die Erdachse ist um 5,145° gegen die Verbindungslinie Erde-Mond ge­neigt!). Die roten Pfeile markieren die Fliehkräfte, die auf der Erdoberfläche wirken. Man sieht: es gibt eine größere Kraft vom Mond weg, und eine kleinere zum Mond hin, weil eben der Abstand zur Ro­ta­tions­achse unterschiedlich ist.

Der Schwerpunkt des Systems liegt auf der Verbindungslinie zwischen den Mittelpunkten von Erde und Mond, sodass es wie eine Waage im Gleichgewicht ist, wenn man das System nur an dieser Stelle unter­stützt. Nach den Hebelgesetzen muss daher gelten: r1 · m1 = r2 · m2, oder:

Skizze
  • Formel

Ein wenig umgeformt erhält man dann die Formel für die Lage des Schwerpunktes:

  • Formel

Legen wir den Bezugspunkt in den Mittelpunkt der Erde, wird r1 = 0 und r2 = r. Mit den Massen von Erde m1 und Mond m2 und ihrem Abstand r rechnen wir jetzt den Abstand des Schwerpunktes vom Erdmittelpunkt aus.

Formel

Der Abstand des Schwerpunktes im System Erde-Mond hat einen Abstand von 4.671,5 km vom Erdmittelpunkt, die Erdoberfläche hat einen von 6.378 km. Der Schwerpunkt liegt also etwa 1.700 km unter der Erdoberfläche!

Berechnen wir nun die Fliehkraft auf der Erdoberfläche auf der dem Mond zu- bzw. abgewandten Seite, z. B. für einen Liter (gleich 1 kg) Wasser. Das System rotiert offensichtlich mit der Umlaufzeit des Mondes von 27d 7h 43m = 2,3606 · 106s, damit ist die Winkelgeschwindigkeit ω  = 2 · π ⁄ T = 2,6617 · 10-6 s-1. Da die Fliehkraft definiert ist als Z = m · r · ω2 ergibt sich für m = 1kg

  • auf der Mond zugewandten Seite mit r = 1,7065 · 106m:
  • Formel
  • und auf der Mond abgewandten Seite mit r = 4,6645 · 106m:
  • Formel.

Die Kraft ist also auf der dem Mond abgewandten Seite ungefähr doppelt so stark wie auf der ihm zugewandten.

Damit wäre erklärt, warum es zwei Wasserhochstände innerhalb von 24 Stunden gibt, und warum eines höher ausfällt als das andere. Wir brauchten für diese qualitative Aussage nur die Fliehkraft zu betrachten. Die Gravitation hat nur eine Rolle gespielt, um den Mond um die Erde kreisen zu lassen.

Der Mond umkreist die Erde in 27d 7h 43m = 2,3606 · 106s, wobei seine Bahnbewegung den gleichen Drehsinn hat wie die Erdrotation. Deshalb ist der Mond-Tag (d. i. die Zeit zwischen zwei Höchstständen über einem Ort auf der Erde) etwa 50 m länger als der Sonnen-Tag. Das führt zu der Verschiebung der beiden Hochwasserzeiten von etwa 30 m von Tag zu Tag (nach der "Sonnenzeit"). Da die Mondbahn um die Erde auch annähernd eine Ellipse ist (wie die Bahn der Erde um die Sonne), schwankt diese Ver­schie­bung im Verlaufe des Mondumlaufs um ein paar Minuten.

Damit ist die dritte Beobachtung erklärt. Zur Erklärung der Abhängigkeit der Hochwasserhöhen von den Mondphasen, müssen wir uns den Einfluß der Sonne ansehen. Auch hier können wir ein Fliehkraftsystem benutzen.

Skizze Da die Sonne mit einer Masse von 1,99 · 1030kg we­sentlich schwerer ist als die Erde (5,973 · 1024kg), liegt nun der Schwerpunkt des Systems innerhalb der Sonnenkugel. Die Umlaufgeschwindigkeit der Erde um die Sonne ist mit 365d 6h 3m = 3,156 · 107s wesentlich langsamer als die des Mondes, und der mittlere Abstand Erde-Sonne beträgt 1,496 · 1011m. Rechnen wir zunächst wieder den Abstand des Schwerpunktes vom Sonnenzentrum aus.

Formel

Bei einem Sonnenradius von 6,960 · 108m liegt der Schwerpunkt also nahe dem Mittelpunkt der Sonne.

Die Winkelgeschwindigkeit der Erde errechnen wir als ω =  2  · π ⁄ T = 1,991 · 10-7s-1, die Fliehkraft in dem System ist also:

  • Formel

Die Fliehkraft ist immer von der Sonne weggerichtet; sie erniedrigt die Hochwasserhöhe auf der Seite, die der Sonne zugewandt ist und erhöht sie auf der abgewandten Seite. Sie ist 100 Mal größer als die Fliehkraft im System Erde-Mond aber sie liegt in der gleichen Größenordnung wie die Gravitationskraft (≈ 6 · 10-3N).

Damit ist die vierte Beobachtung, die Abhängigkeit von den Mondphasen qualitativ erklärt. Bei Voll- und Neumond stehen Sonne, Erde und Mond auf einer Linie, die Fliehkräfte addieren sich also.


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