Kann ein schwimmender Körper auf einem Fluss schneller sein als die Strömung?

Das Problem

In der Rubrik "Stimmt´s" der Wochenzeitschrift "ZEIT" wurde in der Ausgabe 29/2015 vom 16.07.2015 die Frage, ob ein auf einem Fluss treibendes Floß schneller als die Strömung treiben kann. Hintergrund ist ein Verhalten von Rheinschiffern, die bei der Talfahrt ohne Antrieb fuhren: das "Stiefeln".

Die falsche Antwort

Der Redakteur beantwortet die Frage angeblich mit klassische Physik und einem Beispiel, in denen genau das beobachtet worden ist. Das Experiment ist bereits im Jahre 1837 in dem renomierten "Franklin Journal and American Mechanics´ Magazine" berichtet worden. Er leitet daraus ab (oder zitiert den Artikel), dass ein abwärts fließender Fluss eine schiefe Ebene darstellt. Das Schiff beschleunigt dann gegenüber dem umgebenden Wasser. Und — fährt er fort — da das Schiff somit schneller fährt als das Flusswasser fließt, kann man es auch steuern. Flussschiffer hätten dieses "Stiefeln" genannte Verfahren auf dem Rhein benutzt, bis es 1955 verboten worden ist.

Leider stimmt die Quellenangabe nicht: der Jahrgang 1837 des "Franklin Journal and American Mechanics´ Magazine" besteht auf zwei Bänden mit dem Bericht von John William Draper zu "Experiments on Solar Light".

Warum muss die Annahme falsch sein?

Ein Schiff (oder Floß) schwimmt auf dem Wasser, weil es eine seinem Gewicht entsprechende Menge Wasser verdrängt. Bei Fahrt bildet sich vor dem Schiff eine "Bugwelle", das Wasser fließt am Boot entlang und hinter dem Boot wieder wieder zurück. Es entsteht eine "Heckwelle". Die bremst das Schiff, weshalb ein Schiff niemals seine "Rumpfgeschwindigkeit" überschreiten kann. Der Quotient von Geschwindigkeit durchs Wasser und Quadratwurzel der Schiffslänge ist konstant.

Die andere Erklärung für das Stiefeln

Ein Rheinkahn muss immer steuerbar sein, sonst ist spätestens an der Loreley die Reise zu Ende — wie Heinrich Heine in seiner Ballade "Die Loreley" so eindrucksvoll berichtet. Zum Steuern eines Schiffes wird am Heck ein Brett (Ruderblatt) angebracht, das um eine senkrechte Achse gedreht werden kann. Bei einem Schiff in Fahrt, d. h. das Wasser, auf dem es schwimmt, erzeugt eine laminare Strömung um das Schiff und das Ruderblatt. Stellt man nun das Ruderblatt schräg zur Strömung, übt diese einen Druck auf das Ruderblatt aus und erzeugt ein Drehmoment im Schiff: es dreht sich um eine senkrechte Achse, die ungefähr in der Mitte des Schiffes liegt. (Man kann diese Drehung des Schiffes sehr schön bei einem Frachtkahn beobachten.) Die Wirkung der Ruderstellung wird umso stärker je höher die Anströmgeschwindigkeit des Ruderblatts ist (dabei ist es egal, ob das Schiff in stehendem Wasser fährt, oder das fließende Wasser das ruhende Schiff umströmt).

Wie kommt der ZEIT-Autor zu seinen Ansichten (die zitierte Fachzeitschrift hat er wohl nicht gelesen)? Im Internet findet man die Seite Rheinschifffahrtsgeschichte, auf der genau diese Erklärung dargestellt ist. Auch die deutschsprachige Wikipedia behauptet, ein auf dem Fluss treibendes Schiff würde durch die schiefe Ebene schneller als die Strömung. Folgt man aber dem Link auf der Seite zur niederländischen Version, erfährt man, dass die Lastkähne nicht schneller sondern langsamer als die Strömung fuhren.

Die Kähne wurden also gegenüber der Strömung des Flusses abgebremst. Das erreichte man durch einen Schleppanker, der am Bug des Kahns (Steven) befestigt wurde, und der auf dem Flussboden schleifte ohne zu greifen (z. B. durch eine schwere Eisenkette): das Schiff fuhr rückwärts ("über Steven"). Durch die relativ zur Strömung langsamere Fahrt des Kahns wird das Ruderblatt angeströmt und es kann die Drehung des Schiffs bewirken. Da nun anders als beim frei schwimmenden Schiff ein fester Punkt (der gebremste Bug) existiert, dreht das Schiff auf ganzer Länge und kann gezielter gesteuert werden.


Andere pseudo-wissenschaftliche Erklärungen:
Das Rätsel des Duschvorhangs
Das Floß im Flußgefälle
Das Rätsel des Sektlöffels
Die Astroarchäologie


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