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Die Ueberwindung des wissenschaftlichen Materialismus.

Von

Wilhelm Ostwald.

Es ist zu allen Zeiten darüber geklagt worden, dass über die wichtigsten und grundlegendsten Fragen der Menschheit so wenig Ei­nig­keit herrsche. Nur in unseren Tagen ist diese Klage fast verstummt; wenn auch noch mancherlei Widersprüche vorhanden sind, so darf doch behauptet werden, dass selten zu irgend einer Zeit eine so verhältnissmässig grosse Uebereinstimmung in Bezug auf die Auffassung der äusseren Er­schei­nungs­welt vorhanden gewesen ist, wie gerade in unserem naturwissenschaftlichen Jahrhundert. Vom Ma­the­ma­ti­ker bis zum praktischen Arzt wird jeder naturwissenschaftlich denkende Mensch auf die Frage, wie er sich die Welt "im Inneren" gestaltet denkt, seine Ansicht dahin zusammenfassen, dass die Dinge sich aus bewegten Atomen zusammensetzen, und dass diese Atome und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte die letzten Realitäten seien, aus denen die einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen Wie­der­ho­lun­gen kann man den Satz hören und lesen, dass für die physische Welt kein anderes Ver­ständ­niss gefunden werden kann, als indem man sie auf "Mechanik der Atome" zurückführt; Materie und Bewegung erscheinen als die letzten Begriffe, auf welche die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen bezogen werden muss. Man kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus nennen.

Es ist meine Absicht, meine Ueberzeugung dahin auszusprechen, dass diese so allgemein angenommene Auffassung unhaltbar ist; dass diese mechanistische Weltansicht den Zweck nicht erfüllt, für den sie aus­ge­bil­det worden ist; dass sie mit unzweifelhaften und allgemein bekannten und anerkannten Wahrheiten in Wi­derspruch tritt. Der Schluss, der hieraus zu ziehen ist, kann keinem Zweifel unterliegen: die wis­sen­schaft­lich anhaltbare Anschauung muss aufgegeben und womöglich durch eine andere und bessere ersetzt werden. Auch die naturgemäss hier aufzuwerfende Frage, ob solch eine andere und bessere Anschauung vorhanden ist, glaube ich bejahen zu sollen. Was ich Ihnen zu sagen habe, hochgeehrte Versammlung, wird sich dem­nach regelrecht in zwei Theile sondern lassen, den zerstörenden und den aufbauenden. Auch in diesem Falle ist Zerstören leichter als Aufbauen, und die Un­zu­läng­lich­keit der üblichen mechanistischen Ansicht wird leichter nachzuweisen sein, als die Zulänglichkeit der neuen, die ich als die energetische bezeichnen möchte. Wenn ich aber alsbald betone, dass diese neue Auffassung bereits auf dem ruhiger Erwägung und rück­sichts­loser Prüfung so besonders günstigen Gebiete der experimentellen Wissenschaften sich zu bewähren Gelegenheit gehabt hat, so wird dies, wenn auch nicht die Ueberzeugung von ihrer Richtigkeit, so doch die Anerkennung ihres Anspruches auf Be­ach­tung begründen können.

Es ist vielleicht nicht überflüssig, wenn ich von vornherein betone, dass es sich heute für mich aus­schliess­lich um eine na­tur­wis­sen­schaft­liche Erörterung handelt. Ich sehe grundsätzlich und unbedingt ab von allen Schlüs­sen, welche aus diesem Ergebniss für andere, ethische und religiöse, Angelegenheiten gezogen werden können. Ich thue dies nicht, weil ich die Bedeutung solcher Schlüs­se missachte, sondern weil mein Ergebniss unabhängig von solchen Erwägungen, rein auf dem Boden der exacten Wis­sen­schaft ge­wonnen worden ist. Auch für die Bearbeitung dieses Bodens gilt das Wort, dass, wer die Hand an den Pflug legt und schauet zurück, für dieses Reich nicht geschaffen ist. Keinem zu Leid oder zu Liebe ist der Naturforscher ver­pflichtet, zu sagen, was er ge­fun­den hat, und wir dürfen der Kraft der Wahrheit vertrauen, dass ehrliches Suchen nach ihr uns vielleicht vorübergehend, nie aber dauernd vom rechten Wege entfernen kann.

Ich verkenne nicht, dass mein Unternehmen mich in Widerspruch setzt mit der Ansicht von Männern, die Grosses in der Wis­sen­schaft geleistet haben, und zu denen wir Alle bewundernd emporschauen. Mögen sie es mir nicht als Ueberhebung auslegen, wenn ich mich in einer so wichtigen Sache mit ihnen in Widerspruch setze. Sie werden es auch nicht Ueberhebung nennen, wenn der Matrose, der den Dienst im Mastkorbe bat, durch den Ruf "Brandung vorn" den Weg des grossen Schiffes ablenkt, auf welchem er nur ein geringes dienendes Glied ist. Er hat die Pflicht, zu melden, was er sieht, und er würde dieser Pflicht entgegen handeln, wenn er es unterliesse. In solchem Sinne ist es eine Pflicht, deren ich mich heute entledige. Ist doch keiner von Ihnen gehalten, seinen wissenschaftlichen Curs bloss auf meinen Ruf "Brandung vorn" zu ändern; jeder von Ihnen mag prüfen, ob es Wirklichkeit ist, was mir vor Augen steht, oder ob mich ein Scheinbild täuscht. Da ich aber glaube, dass die besondere Art wissenschaftlicher Be­schäf­ti­gung, die mein Beruf ist, mich augenblicklich gewisse Erscheinungen deutlicher erkennen lässt, als sie sich von anderen Ge­sichts­punkten darstellen, so müsste ich es als ein Unrecht betrachten, wenn ich aus äusseren Gründen ungesagt liesse, was ich gesehen habe.

Um uns in der Unendlichkeit der Erscheinungswelt zurechtzufinden, bedienen wir uns immer und überall der gleichen wis­sen­schaft­lichen Methode. Wir stellen das Aehnliche zum Aehnlichen und suchen in der Man­nig­fal­tig­keit das Gemeinsame. Auf diese Art wird die stufenweise Bewältigung der Unendlichkeit unserer Erscheinungswelt bewerkstelligt, und es entstehen in auf­ein­an­der­fol­gen­der Entwickelung für diesen Zweck immer wirksamere Mittel der Zusammenfassung. Von dem blossen Verzeichniss gelangen wir zu dem System, von diesem zum Naturgesetz, und dessen allgemeinste Form verdichtet sich in den All­ge­mein­be­griff. Wir nehmen wahr, dass die Erscheinungen der thatsächlichen Welt, so unbegrenzt ihre Mannigfaltigkeit auch ist, doch nur ganz bestimmte und ausgezeichnete Einzelfälle der formell denkbaren Möglichkeiten darstellen. In der Bestimmung der wirklichen Fälle aus den mög­lichen besteht die Bedeutung der Na­tur­ge­setze, und die Gestalt, auf die sich alle zurückführen lassen, ist die Ermittelung einer In­va­rian­te, einer Grösse, die unveränderlich bleibt, wenn auch alle übrigen Bestimmungsstücke innerhalb der möglichen und durch das Gesetz ausgesprochenen Grenzen sich ändern. So sehen wir, dass die geschichtliche Ent­wicke­lung der wissenschaftlichen An­schau­ungen sich immer an die Entdeckung und Herausarbeitung solcher Invarianten knüpft; in ihnen veranschaulichen sich die Mei­len­steine des Erkenntnissweges, den die Men­sch­heit gegangen ist.

Eine solche Invariante von allgemeiner Bedeutung wurde in dem Begriff der Masse gefunden. Diese liefert nicht nur die Con­stan­ten der astronomischen Gesetze, sondern sie erweist sich nicht minder unveränderlich bei den einschneidendsten Aenderungen, denen wir die Objecte der Aussenwelt un terziehen können, den chemischen Vorgängen. Dadurch erwies sich dieser Begriff als in hohem Masse geeignet, zum Mittelpunkte der naturwissenschaftlichen Gesetzmässigkeit gemacht zu werden. Freilich war er an sich zu arm an Inhalt, um zur Darstellung der mannigfaltigen Erscheinungen dien en zu können, und musste deshalb entsprechend er­wei­tert werden. Dies geschah, indem man mit jenem einfach mechanischen Begriffe die Reihe von Eigenschaften, die er­fah­rungs­mässig mit der Masseneigenschaft verbunden sind und ihr proportional gehen, zusammenfliessen liess. So entstand der Begriff der Materie, in welchen man alles sammelte, was sinnfällig mit der Masse verbunden war und mit ihr zusammenblieb, wie das Gewicht, die Raum­er­füllung, die chemischen Eigenschaften etc., und das physikalische Gesetz von der Erhaltung der Masse ging in das meta­phy­sische Axiom von der Erhaltung der Materie über.

Es ist wichtig, einzusehen, dass mit dieser Erweiterung eine Menge hypothetischer Elemente in den ursprünglieh ganz hy­po­the­sen­freien Begriff aufgenommen wurde. Insbesondere musste im Lichte dieser Anschauung der chemische Vorgang entgegen dem Augenscheine so aufgefasst werden, dass keineswegs die von der chemischen Aenderung betroffene Materie verschwindet und an ihre Stelle neue mit neuen Eigenschaften tritt. Vielmehr verlangte die Ansicht die Annahme, dass, wenn auch beispielsweise alle sinnfälligen Eigenschaften des Eisens und des Sauerstoffs im Eisenoxyde verschwunden waren, Eisen und Sauerstoff in dem ent­stan­denen Stoffe nichts desto weniger vorhanden seien und nur eben andere Eigenschaften angenommen hätten. Wir sind jetzt an eine solche Auffassung so gewöhnt, dass es uns schwer fällt, ihre Sonderbarkeit, ja Absurdität zu empfinden. Wenn wir uns aber überlegen, dass alles, was wir von einem bestimmten Stoffe wissen, die Kenntniss seiner Eigenschaften ist, so sehen wir, dass die Behauptung, es sei ein bestimmter Stoff, zwar noch vorhanden, hätte aber keine von seinen Eigenschaften mehr, von einem reinen Nonsens nicht sehr weit entfernt ist. Thatsächlich dient uns diese rein formelle Annahme nur dazu, die allgemeinen Thatsachen der chemischen Vorgänge, insbesondere die stoechiometrischen Massengesetze, mit dem willkürlichen Begriffe einer an sich un­ver­än­der­lichen Materie zu vereinigen.

Aber auch mit dem so erweiterten Begriffe der Materie nebst den erforderlichen Nebenannahmen kann man die Gesammtheit der Erscheinungen nicht umfassen, nicht einmal im Anorganischen. Die Materie wird als etwas an sich Ruhendes, Unveränderliches ge­dacht; um mit diesem Begriffe die Darstellung der beständig sich verändernden Welt zu ermöglichen, muss er noch durch einen an­de­ren, davon unabhängigen ergänzt werden, welcher diese Veränderlichkeit zum Ausdruck bringt. Ein solcher Begriff war auf das erfolgreichste von Galilei, dem Schöpfer der wissenschaftlichen Physik, ausgebildet worden: es war die Conception der Kraft, der constanten Bewegungsursache. Galilei hatte für die veränderlichen Erscheinungen des freien und abgeleiteten Falles eine hoch­wich­tige Invariante entdeckt; durch den Ansatz der an sich beständigen Schwerkraft, deren Wirkungen sich unaufhörlich summiren, hatte er die vollständige Darstellung dieser Vorgänge ermöglicht. Und von welcher Tragweite dieser Begriff war, erwies sich dann durch Newton, der mit seiner Idee, dass die gleiche Kraft als Function der Entfernung zwischen den Himmelskörpern wirksam sei, die Ge­sammt­heit der sichtbaren Sternenwelt wissenschaftlich erobert hatte. Es war insbesondere dieser Fortschritt, welcher die Ueber­zeu­gung erweckte, dass auf die gleiche Weise, wie die astronomischen, auch alle anderen physischen Erscheinungen sieh durch die gleichen Hülfsmittel darstellen lassen müssten. Als dann vollends am Anfange unseres Jahrhunderts durch die Bemühungen einer Anzahl, insbesondere französischer, hervorragender Astronomen sich ergeben hatte, dass das Newtonsche Gravitationsgesetz nicht nur die Bewegungen der Himmelskörper in grossen Zügen darzustellen vermochte, sondern dazu noch die weit eingehender Prüfung der zweiten Annäherung bestand, indem auch die kleinen Abweichungen von den typischen Bewegungsformen, die Störungen, sich mit gleicher Sicherheit und Genauigkeit aus dem gleichen Gesetz berechnen liessen, da musste das Zutrauen in die Ausgiebigkeit dieser in ganz ausserordentlichem Maasse gesteigert werden. Was lag näher, als die AuffassungErwartung, dass die Theorie, die in so vollkommener Weise die Bewegungen der grossen Weltkörper darzustellen vermocht hatte, auch das rechte, ja einzige Mittel sein müsse, um auch die Vorgänge in der kleinen Welt der Atome der wissenschaftlichen Herrschaft zu unterwerfen? So entstand die mechanistische Auffassung der Natur, nach welcher alle Erscheinungen, zunäch st der unbelebten Natur, in letzter Instanz auf nichts, als die Bewegung von Atomen nach gleichen Gesetzen, wie sie für die Himmelskörper erkannt worden waren, zurückzuführen sind. Dass diese Auffassung von dem Gebiete des Anorganischen alsbald auf das der belebten Natur übertragen wurde, war eine nothwendige Consequenz, nachdem einmal erkannt worden war, dass die gleichen Gesetze, welche dort gelten, auch hier ihre un­ver­brüchlichen Rechte in Anspruch nehmen. Ihren klassischen Ausdruck fand diese Weltanschauung in der Laplaceschen Idee der "Weltformel", mittelst deren den mechanischen Gesetzen gemäss jedes vergangene und zukünftige Ereigniss auf dem Wege stren­ger Analyse sollte abgeleitet werden können. Es sollte dazu ein Geist erforderlich sein, der zwar dem menschlichen weit über­legen, ihm aber doch wesensgleich und nicht grundsätzlich von ihm verschieden wäre.

Man bemerkt gewöhnlich nicht, in welch' ausserordentlich h oh em Maasse diese allgemein verbreitete Ansicht hypothetisch, ja metaphysisch ist; man ist im Gegentheil gewöhnt, sie als das Maximum von exacter Formulirung der thatsächlichen Verhältnisse anzusehen. Dem gegenüber muss betont werden, dass eine Bestätigung der aus dieser Theorie fliessenden Consequenenz, dass alle die nicht mechanischen Vorgänge, wie die der Wärme, der Strahlung, der Elektricität, des Magnetismus, des Chemismus, that­sächlich mechanische seien, auch in keinem einzigen Falle erbracht worden ist. Es ist keinem einzigen dieser Fälle gelungen, die thatsächlichen Verhältnisse durch ein entsprechendes mechanisches System so darzustellen, dass kein Rest übrig blieb. Zwar für zahlreiche Einzelerscheinungen hat man mit mehr oder weniger Erfolg die mechanischen Bilder geben können; wenn man aber ver­sucht hat, die Gesammtheit der auf einem Gebiete bekannten Thatsachen mittelst eines solchen mechanischen Bildes vollständig darzustellen, so hat sich immer und ausnahmelos ergeben, dass an irgend einer Stelle zwischen dem wirklichen Verhalten der Er­schei­nungen und dem, welches das mechanische Bild erwarten liess, ein unlöslicher Widerspruch vorhanden war. Dieser Wider­spruch kann lange verborgen bleiben; die Geschichte der Wissenschaft lehrt uns aber, dass er früher oder später unweigerlich zu Tage tritt, und das einzige, was man von solchen mechanischen Bildern oder Analogien, die man mechanische Theorien der frag­lichen Erscheinungen zu nennen pflegt, mit völliger Sicherheit sagen kann, ist, dass sie jedenfalls einmal in die Brüche gehen werden.

Ein ausgezeichnetes Beispiel für. diese Verhältnisse bietet die Geschichte der optischen Theorien. Solange die gesammte Optik nicht mehr als die Erscheinungen der Spiegelung und Brechung umfasste, war ihre Darstellung durch das von Newton aufgestellte mechanische Schema möglich, nach welchem das Licht aus kleinen Theilchen bestehen sollte, die, von dem leuchtenden Körper geradlinig ausgeschleudert, nach den Gesetzen bewegter und vollkommen elastischer Massen sich verhielten. Dass eine andere mechanische Ansicht, die von Huygens und Euler vertretene Schwingungstheorie, in dieser Beziehung genau so viel leistete, konnte zwar gegen die Alleingültigkeit der ersten Ansicht misstrauisch machen, vermochte ihr aber die Herrschaft nicht zu rauben. Als dann die Erscheinungen der Interferenz und Polarisation entdeckt wurden, erwies sich das mechanische Bild Newtons als ganz un­ge­eig­net, und das andere, die Schwingungstheorie, galt als erwiesen, da aus deren Voraussetzungen wenigstens die Haupt­sachen der neuen Gebiete ableitbar waren.

Auch das Leben der Schwingungstheorie als einer mechanischen Theorie ist ein begrenztes gewesen, denn in unseren Tagen ist sie ohne Sang und Klang zu Grabe getragen und von der elektromagnetischen Lichttheorie abgelöst worden. Secirt man den Leich­nam, so tritt die Todesursache deutlich zu Tage: auch sie ist an ihren mechanischen Bestandtheilen zu Grunde gegangen. Der hy­po­the­tische Aether, dem man die Aufgabe, zu schwingen, auferlegte, musste diese unter ganz besonders schwierigen Be­din­gun­gen er­fül­len. Denn die Polarisationserscheinungen verlangten unbedingt, dass die Schwingungen transversale sein mussten; solche set­zen aber einen starren Körper voraus, und die Rechnungen Lord Kelvin′s haben schliesslich ergeben, dass ein Medium mit solchen Ei­gen­schaften, wie sie der Aether haben müsste, überhaupt nicht stabil ist, also, wie daraus unvermeidlich zu schliessen ist, keine phy­si­sche Existenz haben kann. Wohl um der jetzt angenommenen elektromagnetischen Lichttheorie ein gleiches Schicksal zu er­spa­ren, bat der unvergessliche Hertz, dem diese Theorie so viel verdankt, ausdrücklich darauf verzichtet, in ihr etwas anderes zu sehen, als ein System von sechs Differentialgleichungen. Dieser Schlusspunkt der Entwickelung spricht viel eindringlicher, als ich es irgend könnte, gegen die Erspriesslichkeit der früher eingehaltenen theoretischen Wege im mechanistischen Gebiete.

Das Ergebniss unserer bisherigen Betrachtungen ist zunächst ein rein negatives: wir haben gelernt, wie es nicht zu machen ist, und es erscheint von geringem Nutzen, solche verneinenden Resultate vorzuführen. Indessen dürfen wir schon hier einen Gewinn verzeichnen, der Vielen von Ihnen nicht werthlos erscheinen wird. Wir finden auf unserem Wege die Möglichkeit, eine Ansicht kritisch zu beseitigen, welche ihrerzeit ein nicht geringes Aufsehen und Vielen der Betheiligten eine grosse Sorge gemacht hat. Ich meine die weitbekannten Darlegungen, welche der Berühmte Physiologe der Berliner Universität, Emil du Bois-Reymond, zuerst vor 23 Jahren gelegentlich der Leipziger Naturforscherversammlung und später in einigen weiteren, viel gelesenen Schriften bezüglich der Aus­sich­ten unserer zukünftigen Naturerkenntniss gemacht hat, und welche in dem viel commentirten "ignorabimus" gipfeln. In dem langen Streite, welcher sich an diese Rede geknüpft hat, ist, soviel ich sehen kann, du Bois-Reymond allen Angriffen gegenüber sachlich der Sieger geblieben, denn alle seine Gegner sind von derselben Grundlage ausgegangen, aus der er sein ignorabimus folgerte, und seine Schlüsse stehen ebenso sicher da, wie jene Grundlage. Diese Grundlage, welche inzwischen von keinem in Frage gestellt worden war, ist die mechanistische Weltanschauung, die Annahme, dass die Auflösung der Erscheinungen in ein System bewegter Massenpunkte das letzte Ziel ist, welches die Naturerklärung erreichen könne. Fällt aber diese Grundlage, und wir haben gesehen, dass sie fallen muss, so fällt mit ihr auch das ignorabimus, und die Wissenschaft hat wieder freie Bahn.

Ich glaube nicht, hochgeehrte Versammlung, dass Sie dies Ergebniss mit Verwunderung aufnehmen werden; denn wenn ich nach meinen Erfahrungen urtheilen soll, so hat kaum ein Naturforscher ernsthaft an das ignorabimus geglaubt, wenn man sich auch nicht veranschaulicht hat, in welchem Punkte das Unhaltbare jenes Schlusses gelegen hat. Wohl aber dürfte der Gewinn der negativen Kritik der mechanistischen Weltauffassung, der in der formellen Beseitigung jenes drohenden Gespenstes liegt, doch für manchen Denker, der der unentrinnbaren Logik der du Bois'schen Beweisführung nichts entgegenzusetzen hatte, von einigem Werth sein.

Was hier der Anschaulichkeit wegen in Bezug auf jene besonderen Erörterungen dargelegt worden ist, gilt aber beträchtlich weiter: die Beseitigung der mechanistischen Weltconstruction trifft die Grundlage der gesammten materialistischen Weltauffassung, dies Wort im wissenschaftlichen Sinne genommen. Erscheint es als ein vergebliches, bei jedem einzelnen ernsthaften Versuche kläglich gescheitertes Unternehmen, die bekannten physikalischen Erscheinungen mechanisch zu deuten, so ist der Schluss unabweisbar, dass dies um so weniger bei den unvergleichlich viel verwickelteren Erscheinungen des organischen Lebens gelingen kann. Dia gleichen prinzipiellen Widersprüche machen sich auch hier geltend, und die Behauptung, alle Naturerscheinungen liessen sich in letzter Linie auf mechanische zurückführen, darf nicht einmal als eine brauchbare Arbeitshypothese bezeichnet werden: sie ist ein blosser Irrthum.

Am deutlichsten tritt dieser Irrthum gegenüber der folgenden Thatsache in die Erscheinung. Die mechanischen Gleichungen haben alle die Eigenschaft, dass sie die Vertauschung des Zeichens der Zeitgrösse gestatten. Das heisst, die theoretisch vollkommenen mechanischen Vorgänge können ebenso gut vorwärts, wie rückwärts verlaufen. In einer rein mechanischen Welt gäbe es daher kein Früher und Später im Sinne unserer Welt; es könnte der Baum wieder zum Reis und zum Samenkorn werden, der Schmetterling sich in die Raupe, der Greis in ein Kind verwandeln. Für die Thatsache, dass dies nicht stattfindet, bat die mechanistische Weltauffassung keine Erklärung und kann wegen der eben erwähnten Eigenschaft der mechanischen Gleichungen auch keine haben. Die that­säch­liche Nichtumkehrbarkeit der wirklichen Naturerscheinungen beweist also das Vorbandensein von Vorgängen, welche durch me­cha­ni­sche Gleichungen nicht darstellbar sind, und damit ist das Urtheil des wissenschaftlichen Materialismus gesprochen.

Wir müssen also, dies scheint sich mit vollkommener Gewissheit aus diesen Betrachtungen zu ergeben, endgültig auf die Hoffnung verzichten, uns die physische Welt durch Zurückführung der Erscheinungen auf eine Mechanik der Atome anschaulich zu deuten. Aber, höre ich hier sagen, wenn uns die Anschauung der bewegten Atome genommen wird, welches Mittel bleibt uns übrig, uns ein Bild der Wirklichkeit zu machen? Auf solche Frage möchte ich Ihnen zurufen: Du sollst Dir kein Bildniss oder irgend ein Gleichniss machen! Unsere Aufgabe ist nicht, die Welt in einem mehr oder weniger getrübten oder verkrümmten Spiegel zu sehen, sondern so unmittelbar, als es die Beschaffenheit unseres Geistes nur irgend erlauben will. Realitäten, aufweisbare und messbare Grössen mit einander in bestimmte Beziehung zu setzen, so dass, wenn die einen gegeben sind, die anderen gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der Wissenschaft, und sie kann nicht durch die Unterlegung irgend eines hypothetischen Bildes, sondern nur durch den Nachweis gegenseitiger Abhängigkeitsbeziehungen messbarer Grössen gelöst werden.

Unzweifelhaft ist dieser Weg lang und mühsam, doch ist er der einzige zuverlässige. Aber wir brauchen ihn nicht mit bitterer Ent­sa­gung für unsere Person und in der Hoffnung zu gehen, dass er einmal unsere Enkelkinder auf die ersehnte Höhe führen wird. Nein, wir selbst sind die Glücklichen, und die hoffnungsvollste wissenschaftliche Gabe, die das scheidende Jahrhundert dem auf­däm­mern­den reichen kann, ist der Ersatz der mechanistischen Weltanschauung durch die energetische.

Hochgeehrte Versammlung! Ich lege an dieser Stelle das grösste Gewicht darauf, zu betonen, dass es sich hier keineswegs um etwas unbedingt Neues, erst unseren Tagen Gegebenes handelt. Nein, ein halbes Jahrhundert lang befinden wir uns im Besitz, ohne uns dessen bewusst gewesen zu sein. Wenn irgendwo das Wort: "geheimnissvoll offenbar" zugetroffen hat, so ist es hier: täglich konnten wir es lesen, und wir verstanden es nicht.

Als vor nun 53 Jahren Julius Robert Mayer zuerst die Aequivalenz der verschiedenen Naturkräfte oder, wie wir heute sagen, der verschiedenen Energieformen entdeckte, hat er bereits einen wesentlichen Schritt in der entscheidenden Richtung gethan. Aber nach einem stets wiederkehrenden Gesetz im Denken der Allgemeinheit wird eine neue Erkenntniss nie so rein und ungetrübt auf­genom­men, wie sie dargeboten wird. Der Empfänger, welcher den Fortschritt nicht innerlich erlebt, sondern von aussen ent­ge­gen­genom­men hat, strebt vor allem danach, das Neue, so gut es geht, an das Vorhandene anzuschliessen. So wird der neue Gedanke gestört, und wenn auch nicht gerade verfälscht, so doch seiner besten Kraft beraubt. Ja, so wirksam ist diese Denkeigenthümlichkeit, dass sie auch den Entdecker selbst nicht frei lässt; so hat Kopernikus gewaltige Geisteskraft zwar ausgereicht, Sonne und Erde in ihren Bewegungen die Plätze tauschen zu lassen, nicht aber, um auch die Bewegungen der anderen Wandelsterne in ihrer Ein­fach­heit aufzufassen; für diese behielt er die überkommene Theorie der Epicyklen bei. Aehnliches findet sich auch bei Mayer. So be­stand, wie fast immer, die Arbeit der nächsten Generationen nicht darin, einfach die Ergebnisse der neuen Erkenntniss zu ernten, sondern vielmehr darin, die unwillkürlichen, nicht zur Sache gehörigen Zuthaten Stück für Stück wieder zu beseitigen, bis dann schliesslich der Grundgedanke in seiner ganzen schlichten Grösse erscheinen mochte.

Auch in unserem Falle lässt sich eine solche Entwicklung erkennen. Nachdem J. R. Mayer das Aequivalenzgesetz aufgestellt hatte, war sein Gedanke der äquivalenten Umwandelbarkeit der verschiedenen Energieformen in sein er Einfachheit zu fremdartig, um unmittelbar aufgenommen zu werden. Vielmehr haben die drei Forscher, den en wir bezüglich der Durchführung des Gesetzes am m eisten zu Dank verpflichtet sind, haben Helmholtz, Clausius und William Thomson alle drei das Gesetz dahin "deuten" zu müssen geglaubt, dass alle verschiedenen Energiearten im Grunde dasselbe, nämlich mechanische Energie seien. Auf diese Weise wurde das erzielt, was als das dringendste erschien: ein unmittelbarer Anschluss an die herrschende mechanistische Na­tur­auf­fas­sung; eine entscheidende Seite des neuen Gedankens aber ging dabei verloren.

Es hat eines halben Jahrhunderts bedurft, um die Einsicht reifen zu lassen, dass diese hypothetische Zuthat zu dem Ener­gie­ge­setz keine Vertiefung der Einsicht war, sondern ein Verzicht auf ihre bedeutsamste Seite: ihre Freiheit von jeder willkürlieben Hy­po­these. Und auch nicht die Erkenntniss dieses methodischen Umstandes, sondern das schliessliche Misslingen aller Versuche, die übrigen Energieformen befriedigend mechanisch zu deuten, ist für den gegenwärtigen Fortschritt, soweit er zur Zeit überhaupt zur Geltung gelangt ist, der entscheidende Grund zum Aufgeben der mechanischen Deutung gewesen.

Sie werden ungeduldig sein, hoch geehrte Versammlung, zu erfahren, wie es denn möglich sein soll, mittelst eines solchen ab­strac­ten Begriffes, wie es die Energie ist, eine Weltanschauung zu gestalten, die an Klarheit und Anschaulichkeit mit der me­cha­ni­schen verglichen werden kann. Die Antwort soll mir nicht schwer fallen. Was erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen. Welches ist aber die Bedingung, damit eines dieser Werk­zeu­ge sich bethätigt? Wir mögen die Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames, als das: Die Sinneswerkzeuge rea­giren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung. In einer Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von dem constanten Atmosphaerendrucke haben, unter dem wir leben; erst wenn wir Räume anderen Druckes herstellen, gelangen wir zu seiner Kennt­niss.

Gut; dies werden Sie zuzugeben bereit sein. Aber Sie werden nicht auf die Materie daneben verzichten wollen, denn die Energie muss doch einen Träger haben. Ich aber frage dagegen: warum? Wenn alles, was wir von der Aussenwelt erfahren, deren Ener­gie­ver­hält­nisse sind, welchen Grund haben wir, in eben dieser Aussenwelt etwas anzunehmen, wovon wir nie etwas erfahren haben? Ja, hat man mir geantwortet, die Energie ist doch nur etwas Gedachtes, ein Abstractum, während die Materie das Wirkliche ist! Ich erwidere: Umgekehrt! Die Materie ist ein Gedankending, das wir uns, ziemlich unvollkommen, construirt haben, um das Dauernde im Wechsel der Erscheinungen darzustellen. Nun wir zu begreifen anfangen, dass das Wirkliche, d. h. das, was auf uns wirkt, nur die Energie ist, haben wir zu prüfen, in welchem Verhältniss die beiden Begriffe stehen, und das Ergebniss ist unzweifelhaft, dass das Prädicat der Realität nur der Energie zugesprochen werden kann.

Diese entscheidende Seite der neuen Anschauung tritt vielleicht deutlicher hervor, wenn ich die hier vorliegende Begriffsbildung Ihnen in kürzestem geschichtlichen Abriss vorführe. Wir haben bereits gesehen, dass der Fortschritt der Wissenschaft sich in der Auffindung immer allgemeinerer Invarianten kennzeichnet, und ich habe auch darauf hingewiesen, wie die erste dieser un­ver­än­der­lichen Grössen, die Masse, sich zur Materie, d. h. der mit Volumen, Gewicht und chemischen Eigenschaften ausgestatteten Masse, erweitert hat. Doch war offenbar von vornherein dieser Begriff nicht genügend, um die Erscheinungen in ihrer unaufhörlichen Ver­än­der­lich­keit zu decken, und man fügte seit Galilei den der Kraft hinzu, um dieser Seite der Welt gerecht zu werden. Doch ging der Kraft die Eigenschaft der Unveränderlichkeit ab, und nachdem in der Mechanik in der lebendigen Kraft und der Arbeitsgrösse Func­tionen entdeckt worden waren, welche sich als partielle Invarianten auswiesen, entdeckte Mayer in der Energie die allgemeinste Invariante, welche das ganze Gebiet der physischen Kräfte beherrscht.

Dieser geschichtlichen Entwickelung gemäss blieben Materie und Energie neben einander bestehen, und alles, was man von ihrem gegenseitigen Verhältniss zu sagen wusste, war, dass sie meist mit einander vorkommen, oder dass die Materie der Träger oder das Gefäss der Energie sei.

Sind denn nun aber Materie und Energie wirklich etwas von einander Verschiedenes, wie etwa Körper und Seele? Oder ist nicht vielmehr das, was wir von der Materie wissen und aussagen, schon in dem Begriff der Energie enthalten, so dass wir mit dieser einen Grösse die Gesammtheit der Erscheinungen darstellen können? Nach meiner Ueberzeugnng kann die Antwort nicht zwei­fel­haft sein. Was in dem Begriff der Materie steckt, ist erstens die Masse , d. h. die Capacität für Bewegungsenergie, ferner die Raum­er­fül­lung oder die Volumenergie, weiter das Gewicht oder die in der allgemeinen Schwere zu Tage tretende besondere Art von La­gen­energie, und endlich die chemischen Eigenschaften, d. h. die chemische Energie. Es handelt sich immer nur um Energie, und denken wir uns deren verschiedene Arten von der Materie fort, so bleibt nichts übrig, nicht einmal der Raum, den sie einnahm, denn auch dieser ist nur durch den Energieaufwand kenntlich, welchen es erfordert, um in ihn einzudringen. Somit ist die Materie nichts, als eine räumlich zusammengeordnete Gruppe verschiedener Energien, und alles, was wir von ihr aussagen wollen, sagen wir nur von diesen Energien aus.

Was ich hier darzulegen mich bemühe, ist so wichtig, dass Sie mir verzeihen werden, wenn ich der Sache noch von einer anderen Seite näher zu kommen suche. Gestatten Sie mir, hochgeehrte Versammlung, dafür das drastischste Beispiel zu nehmen, das ich eben finden kann. Denken Sie sich, Sie bekäm en einen Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock oder seine En­er­gie? Die Antwort kann nur eine sein: der Stock ist das harmloseste Ding von der Welt, so lange er nicht geschwungen wird. Aber wir können uns auch an einem ruhenden Stocke stossen! Ganz richtig: was wir empfinden, sind, wie schon betont, Unterschiede der Energiezustände gegen unsere Sinnesapparate, und daher ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder wir uns gegen den Stock bewegen. Haben aber beide gleiche und gleichgerichtete Geschwindigkeit, so existirt der Stock für unser Gefühl nicht mehr, denn er kann nicht mit uns in Berührung kommen und einen Energieaustausch bewerkstelligen.

Diese Darlegungen zeigen, wie ich hoffe, dass in der That alles, was man bisher mit Hülfe der Begriffe Stoff und Kraft darzustellen vermochte, und noch mehr, sich mittelst des Energiebegriffes darstellen lässt; es handelt sich nur um eine Uebertragung von Ei­gen­schaf­ten und Gesetzen, die man jenen zugeschrieben hatte, auf diese. Ferner aber erlangen wir den sehr grossen Gewinn, dass die Widersprüche, welche jener Auffassungsweise anhafteten, und auf welche ich in dem ersten Theile meiner Darlegungen hin­ge­wie­sen habe, hier nicht auftreten. Indem wir keinerlei Voraussetzung über den Zusammenhang der verschiedenen Energiearten unter einander machen, als den durch das Erhaltungsgesetz gegebenen, gewinnen wir die Freiheit, die verschiedenen Eigenschaften ob­jec­tiv zu studiren, welche diesen verschiedenen Arten zukommen, und können dann durch die rationelle Betrachtung und Ordnung dieser Eigenschaften ein System der Energiearten aufstellen, welches uns genau die Aehnlichkeiten, wie die Unterschiede derselben erkennen lässt und uns daher wissenschaftlich viel weiter führt, als die Verwischung dieser Unterschiede durch die hypothetische Annahme ihrer "inneren" Gleichheit es thun kann. Ein gutes Beispiel für das, was ich hier andeuten will, finden wir in der kinetischen Hypothese über den Gaszustand, die sich gegenwärtig noch einer ziemlich allgemeinen Anerkennung erfreut. Nach dieser entsteht der Druck eines Gases durch die Stösse seiner bewegten Theilchen. Nun ist ein Druck eine Grösse, welche keine räumliche Rich­tung besitzt: ein Gas drückt nach allen Richtungen gleich stark; ein Stoss rührt aber von einem bewegten Dinge her, und diese Be­we­gung besitzt eine bestimmte Richtung. Somit kann eine dieser Grössen gar nicht unmittelbar auf die andere zurückgeführt werden. Die kinetische Hypothese umgeht diese Schwierigkeit, indem sie künstlich die dem Stosse zukommende Richtungseigenschaft wieder hinausschafft durch die Annahme, die Stösse erfolgten nach allen Richtungen gleichförmig ohne Unterschied. In diesem Falle gelingt die künstliche Anpassung der Eigenschaften der verschiedenen Energien; in anderen ist sie aber nicht möglich. So sind z. B. die Factoren der elektrischen Energie, die Spannung und die Elektricitätsmenge, Grössen, welche ich polare zu nennen vorschlagen möchte; d. h. sie werden durch einen Zahlenwerth nicht allein gekennzeichnet, sondern besitzen auch ein Zeichen, dergestalt, dass zwei gleiche Grössen entgegengesetzten Zeichens sich zu Null addiren und nicht zum doppelten Werth. In der Mechanik sind solche rein polare Grössen nicht bekannt: dies ist der Grund, warum es nicht gelingen will, eine auch nur einigermassen durchführbare me­cha­nische Hypothese für die elektrischen Erscheinungen zu finden. Sollte sich eine mechanische Grösse mit Po­la­ri­täts­ei­gen­schaf­ten aufstellen lassen - was vielleicht nicht unmöglich und jedenfalls einer eingehenden Untersuchung werth ist, so hätten wir auch das Material, um wenigstens einige Seiten der Elektrik mechanisch zu "veranschaulichen". Freilich lässt sich auch hier mit Sicherheit sagen, dass es sich nur um einige Seiten handeln wird, und dass die ausnahmslose Unvollkommenheit aller mechanischen Hy­po­the­sen sich auch hier zeigen und die vollständige Durchführbarkeit des Bildes verhindern wird.

Wenn nun aber auch wirklich sich die Gesetze der Naturerscheinungen auf die Gesetze der entsprechenden Energiearten zu­rück­führen lassen, welchen Vortheil haben wir davon? Zunächst den sehr erheblichen, dass eine hypothesenfreie Na­tur­wis­sen­schaft mög­lich wird. Wir fragen nicht mehr nach den Kräften, die wir nicht nachweisen können, zwischen den Atomen, die wir nicht be­ob­ach­ten können, sondern wir fragen, wenn wir einen Vorgang beurtheilen wollen, nach der Art und Menge der aus- und eintretenden Energien. Diese können wir messen, und alles, was zu wissen nöthig ist, lässt sich in dieser Gestalt ausdrücken. Welch' ein enormer methodischer Vorzug dies ist, wird Jedem klar werden, dessen wissenschaftliches Gewissen unter der unaufhörlichen Verquickung zwischen Thatsachen und Hypothesen gelitten hat, welche die gegenwärtige Physik und Chemie uns als rationelle Wissenschaft dar­bie­tet. Die Energetik ist der Weg, auf welchem die so vielfach missverstandene Forderung Kirchhoff′s, die sogenannte Na­tur­er­klä­rung durch die Beschreibung der Erscheinungen zu ersetzen, ihrem richtigen Sinne nach erfüllt werden kann. Mit dieser Vor­aus­set­zungs­lo­sig­keit der energetischen Wissenschaft ist gleichzeitig eine methodische Einheitlichkeit verbunden, die, wie ohne Zögern ge­sagt werden darf, bisher noch nie erreicht war. Auf die philosophische Bedeutung dieses einheitlichen Princips in der Auffassung der natürlichen Erscheinungen habe ich bereits hingewiesen; es liegt in der Natur der Sache, darf aber doch wohl auch noch besonders ausgesprochen werden, dass durch diese philosophische Vereinheitlichung auch ganz ungemein grosse Vortheile bezüglich des Leh­rens und Verstehens der Wissenschaft sich ergeben. Um nur ein Beispiel anzuführen, so können wir behaupten, dass alle Glei­chun­gen ohne Ausnahme, welche zwei oder mehr verschiedene Arten von Erscheinungen auf einander beziehen, nothwendig Gleichungen zwischen Energiegrössen sein müssen; andere sind überhaupt nicht möglich. Dies ist eine Folge davon, dass neben den Anschauungsformen Raum und Zeit die Energie die einzige Grösse ist, welche den verschiedenen Gebieten, und zwar allen ohne Ausnahme, gemeinsam ist: man kann also zwischen verschiedenen Gebieten überhaupt nichts anderes einander gleich setzen, als die in Frage kommenden Energiegrössen.

Ich muss mir leider versagen, hier darauf einzugehen, wie dadurch gleichzeitig eine Unzahl von Beziehungen, die zum Theil schon bekannt waren, zum Theil neu sind, unmittelbar hingeschrieben werden können, während man früher sie durch mehr oder weniger umständliche, Rechnungen ableiten musste. Ebensowenig kann ich Ihnen die neuen Seiten auseinandersetzen, welche die schon früher, wenn auch nicht so vollständig bekannten anderen Sätze der Thermodynamik, des ausgedehntesten Theils der Energetik, im Lichte der allgemeinen energetischen Betrachtungen gezeigt haben. Alle diese Dinge müssen ja so sein, wenn das, was ich Ihnen vorher über die Bedeutung der neuen Anschauungsweise gesagt habe, begründet gewesen sein soll. Hierauf brauche ich nicht wieder zurückzukommen.

Aber eine schliessliche Frage möchte ich aufzuwerfen nicht unterlassen. Wenn es einmal gelingt, eine bedeutende und frucht­bringende Wahrheit in ihrer ganzen schlichten Grösse zu erfassen, so ist man nur zu leicht geneigt, in ihrem Kreise auch gleich alles beschlossen zu sehen, was überhaupt in dem Gebiete in Frage kommt. Diesen Fehler sieht man täglich in der Wissenschaft be­ge­hen, und die Meinung, deren Bekämpfung ich die Hälfte der mir zugebilligten Zeit gewidmet hatte, ist ja gerade aus einem solchen Irrthume entstanden. Wir werden uns also alsbald zu fragen haben: Ist die Energie, so nothwondig und nützlich sie auch zum Ver­ständ­niss der Natur ist, auch zureichend für diesen Zweck? Oder giebt es Erscheinungen, welche durch die bisher bekannten Ge­setze der Energie nicht vollständig dargestellt werden können?

Hochgeehrte Versammlung! Ich glaube der Verantwortlichkeit, die ich heute durch meine Darlegungen Ihnen gegenüber über­nom­men habe, nicht besser gerecht werden zu können, als wenn ich hervorhebe, dass diese Frage mit Nein zu beantworten ist. So immens die Vorzüge sind, welche die energetjsche Weltauffassung vor der mechanistischen oder materialistischen hat, so lassen sich schon jetzt, wie mir scheint, einige Punkte bezeichnen, welche durch die bekannten Hauptsätze der Energetik nicht gedeckt werden, und welche daher auf das Vorhandensein von Principien hinweisen, die über diese hinausgehen. Die Energetik wird neben diesen neuen Sätzen bestehen bleiben. Nur wird sie künftig nicht, wie wir sie noch heute ansehen müssen, das umfassendste Prin­cip für die Bewältigung der natürlichen Erscheinungen sein, sondern wird voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer Verhältnisse erscheinen, von deren Form wir zur Zeit allerdings kaum eine Ahnung haben können.

Hochgeehrte Versammlung! Ich fürchte nicht, durch das, was ich eben gesagt habe, den Werth des geistigen Fortschrittes, von dem vorher die Rede war, herabgesetzt zu haben; ich meine, ich habe ihn etwas erhöht. Denn wieder einmal ist es uns ent­ge­gen­ge­tre­ten, dass die Wissenschaft nie und nirgends eine Grenze ihres Fortschrittes anerkennen kann und darf, und dass mitten unter den Kämpfen um einen neuen Besitz das Auge nicht blind dafür werden soll, dass hinter dem Boden, dessen Eroberung es eben gilt, noch weite Flächen sich dehnen, die später einmal auch genommen werden müssen. Der früheren Zeit mochte es hingehen, wenn der Staub und Hauch des Kampfes ihr den Blick in die engen Grenzen des Kampfplatzes gebannt hielt. Heute ist das nicht mehr gestattet; heute schiessen wir mit rauchlosem Pulver - oder sollten es wenigstens thun - und haben daher mit der Möglichkeit auch die Pflicht, nicht den Fehlern früherer Epochen zu verfallen.

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  • Artikel aus:
    Verhandlungen der Ges. Dt. Naturforscher und Ärzte, 67. Versammlung, 1895, Teil 1, Allg. Sitzung.
    Verlag F.C.W.Vogel, Leipzig; Kopie aus den Beständen der Universitätsbibliothek Leipzig
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