Die Astroarchäologie oder Archäoastrologie

Die Problemstellung

Es gibt weltweit viele prähistorische Bauten, die in Himmelsrichtungen ausgerichtet scheinen — manche genau auf die Kardinal­richtungen Nord, Ost, Süd oder West, andere mit mehr oder weniger deutlichen Abweichungen. Dabei sind ähnliche Bauwerke oft nahezu gleich ausgerichtet. Beispiele sind Kirchen, Tempel, Pyramiden oder die jungsteinzeitlichen mittel- und nordeuropäischen Kreisgrabenanlagen und altsteinzeitlichen Steinkreise und -reihen. Sogar jungsteinzeitliche Kulturen legten die Körper der Ver­stor­benen in Himmelsrichtungen [1] ab. Früh wurde vermutet die Orientierung sei religiös begrüdet gewesen. Bei Kirchen ist die Ostausrichtung (nach Jerusalem) überliefert.

Archäologen vermuteten, die Steinreihen und die Kreisgrabenanlagen seinen eine Art Kalender zur Bestimmung des für frühe Ackerbauern wichtigen besten Aussaatzeitpunkts im Frühling [2]. Die gebildeten Archäologen wußten natürlich, dass der Früh­lings­an­fang am 12. März ist. Aber unangenehmer Weise stimmt die Ausrichtung nicht mit dem Sonnenaufgang am 21. März überein. Von Astronomen erfuhren sie, dass sich die Erdachse relativ zur Ebene der Umlaufbahn der Erde um die Sonne perio­disch stärker oder schwächer neigt, was einen Einfluß auf den Punkt des Sonnenaufgangs ausübt. Die Berechnung war die Ge­burts­stunde der Astroarchäologie. [3]

Die Theorie der Astroarchäologie

Schon früh nach der Verbreitung der PCs wurden Astronomie-Programme für Hobby-Astronomen entwickelt, mit denen man den aktuellen Stand von Gestirnen berechnen konnte. Sie beruhten auf den publizierten offiziellen Ephemeriden-Tabellen. Die For­meln habe ich abgeleitet: Berechnung der Richtung und Höhe der Sonne (sie gilt mit der entsprechenden Deklination δ für be­lie­bige Sterne bzw. Planeten).

Das Problem ist die Berechnung der Deklination δ. Im Prinzip kann man sie ausrechnen (Die Deklination der Sonne), wenn man für die Schiefe der Ekliptik ε einen Wert abschätzt — oder kennt. Aber sucht man im Web, findet man Ephemeriden-Tabellen mit Werten seit 5.000 v. Chr. (Swiss Ephemerides). Wenn man diese Daten in eine Astronomie-Software eingibt oder in die For­meln findet man den Stand der Sonne (oder eines beliebigen anderen Sterns) am 8. Mai 3525 v. Chr. um 10:27:15,00 Uhr mit der Zuverlässigkeit eines astrologischen Horoskops: man muß halt 'dran glauben.

Weil es aber so einfach ist, ein paar Zahlen aus dem Internet in eine Software einzugeben, wird die Welt mit archäo­astro­no­mi­schen Publikationen geflutet. Einen Überblick findet man auf der Website der Gesellschaft für Archäoastronomie. Es werden Dis­ser­ta­tionen ausgegeben [6], Tagungen veranstaltet (Ritualarena, Kalenderbau oder performative Architektur?, Online-workshop 27.-29. Jan. 2022), Grundsteinlegungen von Kirchen tagesgenau aus der Abweichung der Achse von der Kardinalrichtung be­stimmt (siehe z. B. bei Erwin Reidingen). Können so viele Menschen irren?

Die Achillesferse der Astroarchäologie

Wissenschaftliche Theorien werden nicht durch demokratische Processe bestätigt. Francis Bacon forderte 1620 in seinem Werk Novum Organum [5], dass ein Theorie als gültig anzusehen ist, wenn sie alle bekannten Naturbeobachtungen widerspruchsfrei erklärt. Man kann natürlich die periodischen Veränderungen der Neigung der Erdachse zur Bahnebene (Präzession und Nutation) in Formeln fassen, aber nicht die unvorhersagbaren nicht-periodischen [4]. Dass es solche Neigungsveränderungen gibt, hat bereits 1942 Milutin Milanković in seiner Eiszeittheorie postuliert, J. R. Petit hat die Theorie experimentell 1999 bestätigt (s. auf der Eiszeittheorie Seite unten).

Wissenschaftlich im Sinne Francis Bacons kann man mit keiner Software die Deklination der Sonne (oder anderer Sterne) für beliebige Zeitpunkte in der Vergangenheit oder in der Zukunft berechnen.

Aber man kann schon Aussagen zur Richtung des Sonnenaufgangs zu den Sonnenwendepunkten machen — innerhalb von Fehlergrenzen. Ich habe das am Beispiel der Kreisgrabenanlage Goseck ausgeführt. Die Kardinalrichtungen bestimmt man ohne Rechnung mit dem Indischen Kreis. Die Genauigkeit ist etwa 1 Bogengrad. So wurden die Gräber der Steinzeitkultur ausgerichtet und die Pyramiden in Ägypten.

Liebe Astroarchäologen, es ist keine Schande etwas nicht zu wissen, aber man macht sich lächerlich, wenn man etwas alt­be­kann­tes nicht berücksichtigt. Es macht auch keinen Sinn mit höchster Genauigkeit zu rechnen, wenn die Ausgangsdaten ungewiß sind: das Ergebnis wird dadurch nicht besser.


Quellen

  1. Th. Schmidt-Kaler and W. Schlosser: Stone-Age Burials as a Hint to Prehistoric Astronomy. J. Roy. Astron. Soc. Can., Vol. 78, No. 5, 1984.
  2. F. Bertemes und W. Schlosser: Der Kreisgraben von Goseck und seine astronomischen Bezüge. In: H. Meller: (Herausg.) Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren. Ausstellungskatalog (Halle/Saale, Stuttgart 2004) 48-51.
  3. D. C. Heggie (Herausg. Archaeoastronomy in the Old World. 1982.
  4. Sasha Warren: Here's Why Earth Just Had Its Shortest Day on Record. Scientific American, Aug. 19, 2022.
  5. Francis Bacon: Novum Organum, Venedig 1762.
  6. Christina Michel, Susanne M. Hoffmann, Wolfram Schier: Built Knowledge — Spatial Patterns and Viewsheds of Middle Neolithic Circular Enclosures in the Northern Foreland of the Harz Mountains, Saxony-Anhalt, Germany. eTopoi. Journal for Ancient Studies, Special Volume 4. 2015.

Andere pseudo-wissenschaftliche Erklärungen:
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Das Floß im Flußgefälle
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