Beatus ille qui procul negotiis —
Glücklich, wer fern seiner Pflichten

Kopenhagen Hauptbahnhof. Um uns unverständliches Sprachgewirr. Wo sind die Fahrräder? Es dauert fast eine Stunde, bis ich einen studentischen Ferienarbeiter finde. Schnell die Rucksäcke auf die Räder ge­schnallt. Wir erregen einiges Aufsehen unter den Touristen. Ein freundlicher Herr erklärt uns ausführlich den Weg zum "Tuborg Havn", auf dänisch! Im Reisebüro gibt es Stadtpläne. Das Rad ist mit 30 kg hinten drauf schwer zu dirigieren. Fürchterlicher Verkehr. In der linken Hand halte ich den Stadtplan. Ein Glück, daß in Dänemark die Radfahrer Vorfahrt haben! Nach einigen Schleifen sehen wir das Schild zur Fähre nach Lands­krona. Foto Da läuft sie auch schon ein. Der Bug hebt sich. Lastzüge, lang, wie man sie in Deu­tsch­land nicht mehr sieht, rollen heraus. Dann be­tre­ten wir mit unseren Rädern die "Linda Scar­lett" [der] Skan­di­navisk Linetrafik A/S. Ein Tuten. Adjö, Kopen­ha­gen, [bis] in 4 Wochen. Als einzige an Deck be­ob­ach­ten wir, wie Schwedens Küste über die Kimm kommt. Landskrona. Rechts die bi­zar­ren, schwar­zen Gerüste der Hafen­kräne ge­gen den grau­ver­han­genen Himmel. Links die Alt­stadt. 2-stöckige Fachwerkhäuser scharen sich frö­stelnd in dem stei­fen Wind um den kleinen Markt­platz. Der Zoll­beam­te winkt uns lachend durch die Sperre. An der Straße ein großes Schild: Vänstre Tafik, Keep left, Linksverkehr. Auf geraden Strec­ken geht es gut, aber in den Kurven ist man im Nu wieder rechts, "Vandrarhem?" Alle erklären uns den Weg zur Ju­gend­her­berge. Sie fragen nach woher und wohin, lachen ungläubig. Die JH ist in einer Schule unter­ge­bracht. Die Klassenzimmer sind die Verwirklichung von Schülerträumen. Getäfelte Wände, Kli­ma­an­la­ge, riesige Fenster bis zur Erde, bunte Vorhänge, Lampen mit Schirmen. Mit einem. Wort: gemütlich. Die Betten: daunenweich. Endlich wieder schlafen. Nach 38 Stunden Fahrt. Gestern noch waren wir in Nürnberg.

Was rauscht da so? Es wird doch nicht…?? Nein, die Sonne scheint! Ab neun auf der Achse. Nach 8 km ein fürchterlicher Knall: ich habe ein großes Loch im Reifen. Auf der E 4 haben wir Rückenwind. Wir fahren mit Windgeschwindigkeit. Zum Glück ist die Gegend flach. Wundervolle Straßen. Glatter Beton, 6-spurig. Die Getreidefelder leuchten gelb. In grünen Wiesen verstreut rotbraune Häuser mit weißen Fenstern und Kanten. 5 km vor Strömsnäsbruck runter von der Europastraße. Blaue Wegweiser zeigen den Weg durch die hübsche kleine Stadt. Dort die Fahne des STF, des Svenska Turist Förenning. In der modern ein­ge­rich­teten Küche bereiten wir unser Abendbrot. Zusammen mit einem Dänen, der in 2 Monaten 3.000 km zu­rück­legte, mit dem Rad. Uns tut es schon nach 100 km hinten weh. Noch ein kleiner Rundgang durch den Ort, dann ins Bett.

Der fährt doch falsch? Halt! Wir haben Linksverkehr. Im Laufe des Tages vergrößert sich das Loch im Mantel immer mehr. 5x fahre ich das untergelegte Stück Gummi durch. Vor Värnamo lohnt es sich nicht mehr. Glücklicherweise kamen ein paar Jungen auf Rädern vorbei. Einer sprach englisch. Er bot uns an, einen Reifen aus der Stadt zu holen. Endlich kommt er zurück. Das Format gib es in Schweden nicht. Er schenkt mir ein Stück Reifen zum Unterlegen. Als wir das Fahrrad wieder zusammengesetzt haben, geht die Sonne unter. Noch 35 km nach Skillingaryd. Mit Steigung! Die JH ist eine Art Volksmuseum. Die Spie­gel­eier braten wir am offenen Kamin. Früh im Regen noch ein paar Schrauben anziehen. Dann los zur Post. Telegramm heim: Reifen nach Oslo [schicken]. In Jonköping, zum Essen hört der Regen auf. Das Mahl besteht aus schwammigem Weißbrot, Butter, Käse, scheußlicher Wurst und fetter Milch. Jetzt fangen die Berge an. Lang steigt die Straße an, fällt dann ein wenig ganz flach ab und steigt wieder. Obwohl wir nur 15 °C haben, läuft uns der Schweiß herab, Skövde ist eine häßliche Industriestadt. Dafür sind die Leute nett. Ein Herr fährt uns im Auto voraus zur JH. Die ist im Diplomatenviertel. Stinkvornehm. Mit unseren klobigen Stiefeln treten wir nur vorsichtig auf. Die Wände sind getäfelt. Auf den Gängen stehen schwere Pol­ster­möbel. Eine nebelige Gebirgsstrecke liegt in Mariestad hinter uns. Vom Väner See im Nebel nix zu sehen. Vor dem Regen flüchten wir in eine Snackbar. Kosten die knallroten Pölser. Sie schmecken nach mehr. Die Landschaft ist sehr romantisch. Dicht bewaldete Hügel, nach links manchmal Ausblick nach Vänern. Plötz­lich ist mein Pedal verbogen. 100 m weiter bricht es ab. Peter rast los nach Kristinehamn. Pedal holen. Da kommen zwei Mopedler, bringen es mir. Sie kannten einen Händler, der zufällig die wohl einzige Achse in Schweden mit deutschem Gewinde hatte. Die JH ist auf dem Cam­ping­platz. Hier kosten wir das schwe­di­sche Bier. Es macht seinem Namen "Öl" alle Ehre. Für Bayern un­ge­nieß­bar.

Foto Heute ist der letzte Tag der Radtour. Ziel: Karlstad. In Kri­sti­ne­hamn wird verpflegt, in einem Supermarkt, mit einem Wörterbuch in der Hand. Die Karlstädter JH ist nicht schön. Sie ist in einem Kran­ken­haus unter­ge­bracht. Jetzt die Räder nach Oslo abschicken. Der Be­am­te am Bahnhof spricht weder englisch noch deutsch. Nach vielem hin und her bringen wir raus, daß der Expressschalter schon ge­schlos­sen ist. Auf­ent­halt bis Montag? Es muß doch einen Aus­weg geben. Wir konsultieren das Reisebüro. Das Aus­kunft­smäd­chen hat einen atemberaubend kurzen Rock an. Sie weiß auch keinen Rat. Telephoniert fast eine Stunde, dann steht fest, wir müs­sen bis Mon­tag warten. Wir sahen wohl recht niedergeschlagen aus, denn sie bot uns an, die Räder für uns aufzugeben. So geht es Sonntag früh los. Nach Kompaß in nördlicher Richtung durch den Wald. Der alltägliche Regen bleibt nicht aus. So beschließen wir gegen Abend, zu pro­bie­ren, ob wir irgendwo im Heu unterkommen. Ein großer Bauernhof rechts voraus. Kurs darauf zu! Da kommt uns schon ein Junge in unserem Alter entgegen: "Ihr seid Deutsche? Ihr wollt wohl bei uns übernachten?" Natürlich! Er führt uns zu einem abseitsstehen den Häuschen, das früher eine Schmiede war. Dann werden wir zum Abend­brot eingeladen. Verschiedene Sorten Käse, Wurst, Brot und Marmelade werden aufgetafelt, sowie kalter Braten und Blaubeeren mit Milch. Man tauscht deutsche Erinnerungen aus; besitzt sogar einen Maßkrug vom Pschorr-Bräu in München.

Foto Nach 20 km Marsch mit 30 kg Gepäck waren wir abends zu faul, das Zelt aufzubauen. Deshalb schliefen wir über nervösen Pferden, neben schnarchenden Kühen und im Dunstkreis eines Misthaufens. Einmal übernachteten wir sogar bei einem Pfarrer. Am nächsten Morgen be­such­ten wir seinen Gottesdienst, wurden am Ende der Predigt erwähnt und bekamen einen Sondersegen, der bis nach Dänemark zurück reichte. Oft wurden wir zum Abendbrot eingeladen, oft bekamen wir früh um 6 Uhr den Kaffee an den Schlafsack serviert. Kinder be­glei­te­ten uns kilometerweit, sangen uns Lieder vor und unterhielten sich mit uns, obwohl keiner die Sprache des anderen verstand. Einmal speisten wir in Gesellschaft von 16 Kindern zwischen 2 und 17 Jahren im Heu zu abend. Abends standen wir mit den Teenagern auf dem Dorfplatz herum, diskutierten über die Schule, den Beat und den Jazz. Lachten über Schulgeschichten und tauschten die Probleme der Teens und Twens aus. Ergebnis: Wie bei uns! Wir marschierten auf Feldwegen, Straßen und im dichten Wald; überquerten einen See auf einer ein­glei­sigen Bahnstrecke und er­reich­ten das andere Ufer gerade vor dem Zug. Überall die erste Frage: "Tyska? Deutsche?" Warum? "Nur Deutsche können auf die Idee kommen, so herumzulaufen. Schweden fahren (leider) Auto". Auf der Straße werden wir an­ge­sprochen: Wie gefällt es Euch? Woher? Wohin? Der Wortschatz geht meist nicht über diese Fragen hinaus. Mit viel Lachen unterhalten wir uns deutsch-schwedisch-englisch-französisch. Hauptsächlich mit Händen und Füßen.

Foto Die Grenze nach Norwegen überschreiten wir in­mit­ten eines weg- und steglosen Moores. In einem Ge­schäft hatten wir nach dem Weg gefragt. Der Be­sit­zer kannte keinen. Er rief aber einen Wald­arbeiter an. Dann diskutierte er mit ihm. Schließlich machte er sich daran, uns zu erklären. Das genügt ihm aber nicht. Es wurde der einzige englisch sprechende Be­woh­ner herbeigerufen, ihm alles erklärt, er er­zähl­te es mir, ich stellte Fragen, er übersetzte und gab mir dann Antwort. Schließlich wußten wir: nach Kompaß genau nach Westen. Es folgen 20 km über fe­dern­den, wasserbedeckten Boden. Stellenweise springen wir über 1 km von Grasbüschel zu Gras­büschel. Nur auf Steinen kön­nen wir uns ausruhen. Wenn wir einen Bach durch­waten, läuft das Wasser oben in die Stiefel. In der Nacht haben Frost.

In Bjørkelangen wechseln wir Geld. Als wir aus der Bank treten, kommen zwei Mädchen auf uns zu: Sprach­stu­den­tinnen als Ferienarbeiter bei der örtlichen Zeitung. "Would you be so kind to give an interview for the newspaper?" Bilder werden gemacht. Von vorn, von hinten und von der Seite.

Foto Den Rest bis Oslo wollen mit der Bahn fahren. In Blaker ist Jernvägstasjon. 1 Minute vor Abfahrt des einzigen Zuges [am Tag] kommen wir an. In Oslo fahren wir weiter zur JH. Angemeldet? Nein. Ihr habt Glück. Noch 2 Betten frei. Es ist 14:30 h. Von hier oben hat man eine ausgezeichnete Aussicht über die Stadt. In einem engen Fjord, an drei Seiten von hohen, dun­kel­grün bewaldeten Bergen liegt die Stadt hingebreitet am Oslofjord. Das Meer glänzt im Schein der unter­ge­hen­den Sonne dunkelrot. Darin unzählige schwarze Punkte, die bewaldeten Inseln. Ein über­wäl­ti­gen­des Bild, das sich nicht beschreiben läßt. Hinab in die Stadt. Die Atmosphäre einer anderen Welt. Im Hafen liegt ein Segelschulschiff der norwegischen Marine. Wuchtig das rote Rathaus, die Küsten­be­festi­gungen. Aber wir müssen unsere Fahrräder aufspüren. Heute ist es zu spät. Alle Schalter haben ge­schlos­sen. Nach­dem wir am nächsten Tag von Büro zu Büro geschickt worden waren, bekamen wir sie endlich aus­ge­händigt, Peters Reifen war völlig durchlöchert. Wir versuchten hier Reifen zu kriegen. Ein Renn­sport­ge­schäft führt italienische, die auf seine Felgen passen. Ich hole meinen aus Deutschland eben an­ge­kom­me­nen [Reifen] auf der Post ab.

Die Räder werden noch einmal überholt, denn morgen geht es 130 km weit nach Halden. Es wird aus­giebig gefrühstückt. Für 4.50 nkr kann man sich mit Brot, Butter, Marmeladen, Käse, Bohnenkaffee, Tee, Cornflakes und Milch nach Herzenslust bedienen. Zuerst geht die Fahrt etwa in Meereshöhe den Fjord abwärts. Ab Moss wendet sieh die Straße ins Inland. Gegen Abend beginnen die Berge. Todmüde nach 12-stündiger Fahrt kommen wir in der pompösen Villa der JH in Halden an. Am nächsten Tag fahren wir ab 12 km vor der Grenze auf einer Regenstraße. Schneller als 15 km/h zu fahren ist nicht möglich. Alle [paar] Kilometer halten und Gepäck richten. Die Strecke ist sehr gebirgig. Oft steigt die Straße in Serpentinen 2 - 300m an, fällt wieder auf Meereshöhe, steigt erneut. Die Berge sind rundgeschliffen, mit Mischwald be­wach­sen. Dazwischen eingebettet die dunkelblauen Seen, die uns schon in Schweden so fasziniert haben. Foto Als wir vor Uddevalla um einen Bergausläufer her­um­fah­ren, sehen wir plötzlich riesige Tanker, mit min­de­stens 50.000 BRT vor uns, 100 km vom Meer. In der JH Trollhättan kommen [wir] erst in der Dunkel­heit an. Jetzt sind wir auf der gegenüberliegenden Seite des Vänersees. 150 km südlich Karlstad. Heute ist "Ruhe­tag". Tagesziel: Göteborg. Göteborg ist eine reizende, mittelalterliche Stadt. Wir haben genug Zeit, sie zu be­sichtigen. Das erste Mal seit über drei Wo­chen unter­hal­ten wir uns mit Deutschen. Als wir die Auto­bahn bei Göteborg befahren, werden wir bald heruntergejagt. Gegen Abend, bei einer Rast, spre­chen uns zwei Berliner an. Sie sind völlig abgebrannt und haben seit 2 Tagen nichts mehr gegessen. Wir helfen mit Knäcke­brot aus. Tja, das Anhalten ist in Schweden schwer. In Halmstad haben wir die letzte Gewalttour hinter uns. Wieder fahren wir auf der Auto­bahn weiter. An einer Tankstelle, wo wir unter großen Ver­bots­schil­dern durchfahren, stehen 2 Po­li­zei­wagen. Noch 20 km bis Ende der Autobahn. Jedes mal, wenn ein Auto überholt, zucken wir zusammen: Aber nichts geschieht. Die Fahrt geht jetzt an der Küste entlang. In Hälsingborg sehen wir die dänische Küste wieder. Die JH in Hälsingborg ist mit Abstand die komfortabelste. Man wohnt hier in 2-Zimmer Bungalows, die eigene Waschräume haben. Die 6-Bett-Zimmer sind aufs gemütlichste eingerichtet.

Foto Mit der Fähre nach Hälsingör. Rechts an der Ha­fen­ein­fahrt: Hamlets Schloß. An der Küste entlang fahren wir nach Kopenhagen. Der Kreis hat sich ge­schlos­sen. Im strömenden Regen suchen wir drei Stunden lang die JH. Die ist belegt. Also zum Bahn­hof. Die Räder werden auf­ge­ge­ben und ein Zug nach Hause aus­gesucht. Die War­te­zeit vertreiben wir uns im Tivoli.

Ade Skandinavien! Wir kommen wieder!


Dieser Reisebericht erschien in der November 1966 Ausgabe des Homo Sapiens — Schülerzeitung am Hans-Sachs-Gymnasium, Nürnberg (Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Autors). Die damals gültige Rechtschreibung wurde nicht geändert.


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Zuletzt geändert: 20.02.2017
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